In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
Corinne.
»Ich spiele ihm nachher auf jeden Fall was auf dem Klavier vor«, sagte Helen. »Und ich zeige ihm meinen Laufsteggang.«
»Da ist er wieder«, sagte Corinne. »Er hat Oma ein Gemälde mitgebracht. War ja klar. Kommt, wir gehen rüber.«
»Geht ihr zwei nur schon mal ohne mich«, sagte Leo. »Ich muss mich ein bisschen um Carolin kümmern.«
Corinne und Helen sahen mich böse an, aber dann ließen sie uns allein. Leo trank ziemlich schnell hintereinander zwei Gläser Champagner und ließ sich noch eine Weile darüber aus, wie typisch es für seinen Vater sei, immer dann aufzukreuzen, wenn man überhaupt nicht mit ihm rechnete, aber nie da zu sein, wenn man ihn brauchte.
»Vor drei Jahren musste meine Mutter für ein paar Tage ins Krankenhaus. Wegen so einer Unterleibssache. Meinst du, dass er da gekommen ist, um sich um seine Töchter zu kümmern? Natürlich nicht! Das mussten wieder mal unsere Großeltern übernehmen. Obwohl Helen ihn unter Tränen darum gebeten hat, nach Hause zu kommen.« Er griff sich noch ein drittes Glas Champagner von einem Tablett und zog mich zurück in die Ecke mit dem Flügel.
Hinter meinem linken Auge begann es wieder zu pochen.
»Und siehst du, was er anhat?« Leo guckte finster zur anderen Seite des Raumes, wo sein Vater zusammen mit seinen Schwestern und seiner Großmutter stand und sich gut gelaunt abwechselnd mit jedem von ihnen fotografieren ließ. »Ist doch egal, ob er gerade vom Flughafen kommt oder nicht. Man kann auch mit Anzug und Krawatte in ein Flugzeug steigen, oder etwa nicht? Und ich möchte nicht wissen, wie viele Wochen er nicht mehr beim Frisör war. Warum trinkst du nichts?«
»Ich habe Kopfschmerzen.«
Leo ging nicht darauf ein. »Ich weiß jetzt schon ganz genau, was er fragen wird. Er fragt immer das Gleiche. Was mich am meisten wütend macht, ist, dass er immer so tut, als wäre alles in bester Ordnung. Und am Ende sagt er, dass er sich sehr freuen würde, wenn wir ihn mal besuchen kämen. Wo auch immer er gerade wohnt. Als ob wir das jemals täten.«
»Warum denn nicht?«
Leo sah mich erbost an. »Warum denn nicht? Hast du’s noch nicht kapiert? Er hat uns verlassen, da war Helen gerade mal neun! Das habe ich dir doch alles schon mal erzählt. Er hat sich wie ein Arschloch verhalten. Meiner Mutter würde es das Herz brechen, wenn wir plötzlich die Seiten wechseln würden.«
»Aber hier geht es doch nicht um zwei feindliche Geheimdienstorganisationen. Man kann doch sowohl zu seiner Mutter als auch zu seinem Vater ein gutes Verhältnis haben, auch wenn die beiden geschieden sind.«
»Eben nicht«, sagte Leo. »Aber das verstehst du nicht.«
Eine Weile schwiegen wir vor uns hin. Leo nippte an seinem Champagner und warf immer wieder finstere Blicke zu seinem Vater hinüber. Auch ich sah ab und an hinüber. Ich dachte an sein Lächeln und meine weichen Knie und wie verrückt das war. Dieser Mann musste doch uralt sein, viel älter, als er aussah. Mindestens fünfundvierzig. Und er war der Vater meines Freundes.
Trotzdem.
Corinne und Helen kamen zu uns zurück.
»Wir haben haufenweise Fotos, guck mal«, sagte Corinne.
»Er hat überhaupt nicht nach Mama gefragt«, sagte Helen.
»Aber Helen hat ihm trotzdem gesteckt, dass Mama immer mit Herrn Schmitter gemischtes Doppel spielt. Und dass Herr Schmitter immer Ferrero-Küsschen für uns mitbringt.«
Sie kicherten alle beide. Helen setzte sich wieder ans Klavier und spielte die Mozart-Sonate in Es-Dur von vorhin. Oder sie versuchte es wenigstens.
Corinne sagte: »Wenn er gleich kommt, müssen wir auch Fotos von euch beiden machen, Leo. Er hat uns nach Madrid eingeladen.«
»War ja klar«, sagte Leo.
Helens Geklimpere ging mir wahnsinnig auf die Nerven.
»Das sind Zweiunddreißigstel«, platzte es schließlich aus mir heraus. »Die spielt man doppelt so schnell wie die Noten davor.«
»Weiß ich selber«, sagte Helen. »Aber das ist zufällig ein Adagio. Und das ist langsam.«
»Zweiunddreißigstel Noten sind immer nur halb so lang wie Sechzehntel«, sagte ich. »Egal in welchem Tempo.«
»Das ist eben ein natürliches Ritardando«, sagte Helen und warf herausfordernd den Kopf zurück. »Wenn du weißt, was das ist.«
»Unsinn«, sagte ich. Oh. Leos Vater – Karl – kam zu uns hinüber. Mein Herzschlag beschleunigte sich auf unangenehme Art und Weise. »Wenn Mozart gewollt hätte, dass die Zweiunddreißigstel wie die Sechzehntel gespielt werden, dann hätte er das auch so
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