In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
in kürzester Zeit zwei Paar Schuhe. Ich sah ihr staunend dabei zu. Ich brachte es kaum auf ein Paar pro Jahr, und niemals wäre es mir eingefallen, zwei Paar an ein und demselben Tag in ein und demselben Laden zu kaufen. Nicht mal, wenn es Apfelkuchen und Cappuccino umsonst dazu gab. Aber die Leute hier mussten alle kaufsüchtig sein. Oder hypnotisiert. Offenbar konnte niemand diesen Laden verlassen, ohne nicht wenigstens eine Haarschleife gekauft zu haben. (Es gab welche, die genau zu den Schuhen und den Handtaschen passten. Pervers, oder?)
Eine andere Frau war kaum im Laden, da zeigte sie auch schon auf den schwarzen Schuh, den Nelly am rechten Fuß trug und fragte: »Haben Sie den auch in Größe 39?«
Als sie gegangen war – mit den schwarzen Pumps in der Tüte –, schnitt Nelly ihrer Mutter eine triumphierende Grimasse, schwang ihre langen Beine vom Tresen und tauschte die Schuhe gegen eine silberfarbene Abendsandalette und einen giftgrünen Gummistiefel mit aufgedruckten Erdbeeren. Anschließend legte sie beide Füße zurück auf den Tresen und vertiefte sich wieder in Homo faber.
»Die kenne ich«, sagte Trudi, als die nächste Kundin zur Tür hereinkam. »Die war mal in einem meiner Atemtherapiekurse. Hier, nimm mal.« Sie reichte mir ihr Baby. »Sie muss noch ein Bäuerchen machen.«
Ein bisschen überrumpelt, saß ich mit dem Baby auf dem Arm da. »Bäuerchen machen« war nur ein anderer Ausdruck für »dein Oberteil vollkotzen«, das wusste ich noch aus denBabyzeiten meiner Nichte Eliane. Aber Trudis Baby überraschte mich positiv: Es ließ sein Köpfchen an meine Schulter sinken und schlief ein. Für so ein winziges Ding war es ganz schön schwer, fand ich. Ich wagte nicht, mich zu bewegen, aus Angst, es könne wieder aufwachen und doch noch ein Bäuerchen machen. Es dauerte aber nicht lange, da kam Mimi und nahm es mir ab.
»Ist sie nicht das süßeste Geschöpf aller Zeiten?«, flüsterte sie hingerissen. »Diese kleinen Händchen und das flaumige Köpfchen. Sie ist so zauberhaft.«
»Das sagst du auch von Annes Schreihals«, sagte Nelly, ohne von ihrem Buch aufzusehen.
»Das sagt sie von jedem Baby«, sagte ich.
»Sie sind eben alle zauberhaft«, sagte Mimi. »Lauter kleine Wunder. Oh, seht doch! Francesca gähnt.«
Meine Schwester mit einem fremden Baby auf dem Arm zu sehen, mit dieser Sehnsucht in den Augen, bestätigte mich sehr in meiner schlechten Meinung vom Leben im Allgemeinen und der Verteilung von Glück und Unglück im Besonderen: Es ging einfach nicht gerecht zu. Mimi wünschte sich nichts mehr als eigene Kinder, aber seit der Fehlgeburt vor anderthalb Jahren war sie nicht mehr schwanger geworden. Alle anderen Leute bekamen ständig Kinder, auch die, die überhaupt keine wollten. Oder die, die so verzogene Gören aus ihnen machten wie die Kreissäge und mein Bruder aus ihrer Eliane. Aber ausgerechnet Ronnie und Mimi, die wie dafür geschaffen schienen, gute Eltern zu sein, durften keine kriegen.
Mindestens vier Kinder hatte Mimi immer haben wollen, die Namen für ihre Erstgeborenen hatte sie schon ausgesucht, lange bevor sie Ronnie kannte: Nina-Louise für ein Mädchen, Severin für einen Jungen. (Wie die Brücke, ich weiß, ich find’sauch total … tja, Geschmäcker sind eben verschieden.) Aber seltsamerweise fand Ronnie das gar nicht seltsam und – was noch seltsamer war – er fand die Namen sogar richtig schön.
Als ich mit Karl zusammenkam, war Mimis entscheidendes Argument dagegen immer die Kinderfrage gewesen.
»Wenn du diesen Mann heiratest, heißt das, dass du dich gegen ein Leben mit Kindern entscheidest«, hatte sie gesagt. »Bitte tu das nicht. Du bist noch so jung.«
»Aber ich will überhaupt keine Kinder haben«, hatte ich dagegengehalten.
»Noch nicht! Aber glaub mir, irgendwann kommt eine Zeit, da wird sich das ändern. Und dann bist du mit dem falschen Mann verheiratet.«
Als ich Karl davon erzählte, hatte er mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Deine Schwester hat Recht. Ich will keine Kinder mehr. Die, die ich habe, reichen mir vollkommen. Sie führen mir immer vor Augen, dass ich als Vater versagt habe. Also heirate mich bloß nicht!«
Vielleicht hatte Mimi wirklich Recht gehabt. Irgendwann wäre vielleicht der Zeitpunkt gekommen, an dem ich mir Kinder gewünscht hätte. Aber der Zeitpunkt war noch nicht gekommen.
»Noch ein Stück Apfelkuchen?«, fragte Constanze.
»Es sind nur noch zwei da!«, sagte Nelly mürrisch, was offenbar so viel
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