In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
Stadtgrenzen hinaus bekannt. Dafür zahlen wir auch sehr gut.«
Sehr gut. Hatte Frau Karthaus-Kürten nicht gerade noch darüber gesprochen, dass ich mir über Arbeit Gedankenmachen sollte? Warum nicht als Organistin auf Beerdigungsfeiern Geld verdienen? Das war wenigstens originell. Und man würde garantiert nicht mit allzu vielen gutgelaunten Menschen zusammentreffen, die einem mit glücklichen Gesichtern auf den Nerv gehen konnten.
»Ihre Bewerbungsunterlagen sind beeindruckend, vier Semester Kirchenmusikstudium in Düsseldorf, seit elf Jahren Organistin Ihrer Heimatgemeinde …« An dieser Stelle runzelte der Bestatter die Stirn. »Da haben Sie ja jung angefangen, oder?«
Ich nickte. »Ich war so eine Art Wunderkind.«
»Na, dann spielen Sie mal.« Er zeigte einladend auf die Orgelbank.
Ich setzte mich. Das riesengroße Konterfei von Karl lächelte auf mich nieder. Die Orgel hatte ein zweireihiges Manual und jede Menge Pedale zu meinen Füßen. Von denen würde ich mich fernhalten müssen, Pedale, die Töne von sich gaben, gab es weder beim Cembalo noch beim Klavier.
Ich würde etwas von Bach spielen – das passte zur Orgel und irgendwie auch zum Thema.
Ich schlug den ersten Akkord an. Nichts tat sich.
»Sie müssen die Orgel natürlich vorher anstellen«, sagte der Bestatter und drückte einen seitlichen Schalter.
»Ah, ja, ich dummes Ding«, sagte ich. Das Teil war natürlich elektronisch, sonst hätte es schließlich jede Menge riesige Pfeifen gehabt. Immerhin klang es vertraut, wie ein Cembalo. Ich spielte die ersten paar Takte eines Präludiums und fühlte mich ganz wie zu Hause. Aber dann – weiß der Teufel, warum – klang das Cembalo plötzlich wie ein Streichorchester. Ach, diese elektronischen Instrumente konnte doch niemand ernst nehmen, das war nur etwas für Alleinunterhalter.
»Sehr hübsch«, sagte der Bestatter. »Aber vielleicht haben Sie auch etwas Getrageneres im Repertoire?«
»Sicher«, sagte ich und drückte testweise ein paar Knöpfe. Jetzt spielte die linke Hand auf dem unteren Manual Klavier, und die Töne, die die rechte auf dem oberen Manual machte, hörten sich an wie eine Violine. Total bescheuert. Ich konnte elektronische Instrumente nicht ausstehen. Sie täuschten etwas vor, was sie gar nicht waren. Der erste Satz von Bachs »Italienischem Konzert« erklang, total entstellt. Dem Bestatter schien es aber zu gefallen, er lächelte zumindest anerkennend.
»Ist das Bach? Wir hassen Bach!«, hörte ich eine Frauenstimme sagen, und beinahe hätte ich die Füße auf die Pedale unter mir fallen lassen und damit einen disharmonischen Clusterakkord unter mein »Italienisches Konzert« gesetzt.
»Ups«, sagte das Teufelchen, und das Engelchen fiel in Ohnmacht.
»Man trifft sich immer zweimal im Leben.«
Ich weiß, das hatten wir schon mal.
Aber – hey! – da sieht man doch mal,
wie oft dieser blöde Spruch zutrifft.
Über die Orgel hinweg sah ich, dass der ältere Bestatter zurückgekehrt war, zusammen mit einer jungen Frau und einem jungen Mann und mehreren großen, auf Holzrahmen gezogenen Leinwänden. Obwohl ich sie nur im Halbprofil sah, erkannte ich die beiden Neuankömmlinge sofort. Es waren Leo und seine Schwester Helen.
»Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick, Frau Roser«, flüsterte der jüngere Bestatter neben mir. »Und spielen Sie einfach weiter, nur vielleicht nichts von Bach, und schön leise.«
Ich war vorübergehend zur Salzsäule erstarrt und nicht fähig, etwas zu erwidern. Obwohl Leo und Helen jetzt mit dem Rücken zu mir standen, irgendwo da vorne bei den Staffeleien, fühlte ich mich bereits erwischt. Und mir fiel absolut nichts ein, das ich spielen konnte. Außer »Dreht euch nicht herum, denn der Plumpssack geht um«.
»Oh Gottogottogott«, jammerte das Engelchen, wieder aus der Ohnmacht erwacht.
»Hau ab!«, zischte mir das Teufelchen zu. »Schleich dich. Verschwinde. Mach ’ne Fliege.«
Ich schluckte trocken. Nichts wollte ich lieber tun. Aber meine Beine gehorchten mir nicht. Die riesigen Schwarz-Weiß-Fotografien, die Leo und Helen auf die Staffeleien stellten, zeigten allesamt Karl. Karl lachend, Karl ernst dreinschauend, Karl zusammen mit dem pausbäckigen, vielleicht fünfjährigen Leo, der einen Gänseblümchenstrauß in der speckigen Faust hielt.
»Das sind ganz wunderbare Fotos«, sagte der ältere Bestatter. »Sie haben darin wirklich die Seele Ihres wunderbaren Vaters eingefangen.«
»Meine Mutter hat sie gemacht«,
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