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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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Gebilde, die so groß waren, daß der Wasserdampf an der Decke regelmäßig kondensierte und herabregnete. Im Innern befand sich ein einzelner nackter Riese.
    Die Erde.
    Sie kniete auf allen vieren, mehr tierisch als menschlich, gewaltig, ungeschlacht, voll verborgener Kraft. Ihr Fleisch war schwer und lose. Ihre Gliedmaßen waren angekettet, eine grobe Visualisierung subtilerer Fesseln und Vorsichtsmaßnahmen, die sie auf ewig in den Randbezirken des Systems festhielt. Ihr Geruch, eine beißende Mischung aus Moschus, Urin und gärendem Schweiß, war überwältigend. Sie roch wirklich und gefährlich.
    In der Gegenwart der Stellvertreterin der Erde hatte der Bürokrat das unbehagliche Gefühl, sämtliche Vorkehrungen und Fesseln, die das System mobilisieren konnte, würden nicht ausreichen, sie in Schach zu halten, sollte sie sich irgendwann einmal loszureißen versuchen.
    Vor der Riesin hatte man ein Gerüst errichtet. Menschliche und künstliche Forscher standen auf unterschiedlichen Plattformen und befragten sie. Während der Bürokrat den Eindruck hatte, die Erde habe das Gesicht von ihnen abgewendet, verhielt sich jeder so, als redete sie einzig und allein mit ihm.
    Der Bürokrat kletterte zu einer Plattform hoch, die sich auf einer Höhe mit ihren Brüsten befand. Die Brüste waren runde, angeschwollene Fleischkontinente; so aus der Nähe betrachtet trat die kleinste Unreinheit überdeutlich hervor. Blaue Adern wanden sich unter der zerklüfteten Haut wie unterirdische Flüsse. Von den Schlüsselbeinknochen strahlten komplizierte silbrigweiße Streifen aus. Zwischen den Brüsten befanden sich zwei kopfgroße Pickel. Schwarze Brustwarzen, die so schrumplig wie Rosinen waren, sprangen aus den wundgescheuerten milchig-rosigen Warzenhöfen vor, die aus Wachs zu bestehen schienen. Auf einer Brust wuchs ein einzelnes gebogenes Haar, so groß wie ein Baum.
    »Äh, hallo«, sagte der Bürokrat. Die Erde senkte ihr teilnahmsloses Gesicht und schaute ihn an. Ihre Züge waren reizlos, die Augen so leblos wie zwei Steine; die Erde würde sich gewiß für eine andere Form der Selbstdarstellung entschieden haben. Doch auch dem Gesicht war eine gewisse Erhabenheit zu eigen, und unwillkürlich erschauerte der Bürokrat. »Ich möchte dir ein paar Fragen stellen«, begann er verlegen. »Darf ich dich etwas fragen?«
    »Ich werde hier nur geduldet, weil ich Fragen beantworte.« Die Stimme war ausdruckslos, emotionslos, ein gewaltiges trockenes Flüstern. »Frag!«
    Er war hergekommen, um sich nach Gregorian zu erkundigen. Doch nun, in der überwältigenden Gegenwart der Erde, vermochte er sich nicht zu beherrschen. »Warum bist du hier?« fragte er. »Was willst du von uns?«
    Im gleichen leblosen Ton antwortete sie: »Was will eine Mutter schon von ihren Töchtern? Ich will euch helfen. Ich will euch raten. Ich will euch formen nach meinem eigenen Bild. Ich will euer Leben leiten, euer Fleisch verzehren, eure Körper zermahlen und eure Knochen abnagen.«
    »Was würde geschehen, wenn du dich losreißen würdest? Was würde dann aus uns Menschen werden? Würdest du uns wieder töten, wie damals auf der Erde?«
    Nun kam eine Spur von Ausdruck in ihr Gesicht, eine Art Belustigung, gewaltig, kühl und intelligent. »Oh, das läge mir fern.«
    Der Aufpasser faßte ihm mit einer motorisierten Metallhand an den Ellbogen, eine Ermahnung, keine Zeit zu verschwenden und endlich zur Sache zu kommen. Ihm fiel ein, daß ihm nur eine gewisse Frist zur Verfügung stand. Er holte tief Luft und sagte: »Vor einiger Zeit hat dich ein gewisser Gregorian befragt ...«
    Alles erstarrte.
    Die Luft wurde zäh. Die Geräusche verstummten. Zu schnell, um ihnen zu folgen, rasten Wellen der Lethargie durch den Begegnungsraum, Wellen in einem Tümpel der Trägheit. Die Bewegungen der Wächter und Forscher verlangsamten sich, hörten ganz auf, wurden von verschwommenen regenbogenfarbenen Auren eingeschlossen. Nur die Erde bewegte sich noch. Sie neigte den Kopf, öffnete den Mund und streckte ihre rosiggraue Zunge heraus, bis die feuchte Spitze seine Füße berührte. Ihre Stimme schwebte im Raum.
    »Klettere in meinen Mund.«
    »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht.«
    »Dann wird deine Frage niemals beantwortet werden.«
    Er holte tief Luft. Benommen trat er vor. Die Zunge war rauh und naß und gab unter seinen Füßen nach. Speichelfäden schwankten zwischen den geteilten Lippen, in der dickflüssigen, klaren Substanz waren große Blasen

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