INAGI - Kristalladern
dazu brachte, ihr Territorium jenseits der Oyatsumi zu verlassen und die Menschen zu attackieren. War es wirklich die Schuld der Gohari, wovon nicht wenige Dorfbewohner überzeugt waren? Hatten sie irgendetwas getan, um die Drachen gegen sich aufzubringen? Doch was immer die Ursache sein mochte und wenn die Eroberer auch nicht die Einzigen waren, die unter den Angriffen zu leiden hatten, zogen die Inagiri unbestreitbar eine gewisse Befriedigung aus der Tatsache, dass die Eroberer der Amanori nicht Herr wurden. Es war tröstlich zu wissen, dass es Wesen gab, die die Gohari nicht so einfach unterwerfen und sich gefügig machen konnten.
Ein Klopfen an der Haustür riss Ishira aus ihren Gedanken. Es war Kanhiros Vater. In den Händen hielt er die vertraute Stoffrolle, in der er sein Rehime aufbewahrte. »Wie geht es deinem Bruder?« erkundigte er sich.
Sie blickte in Kenjins bleiches Gesicht, auf dem sich deutlich die roten Schrammen abzeichneten. Auf seiner Stirn stand kalter Schweiß. »Nicht so gut. Er ist zu unruhig, um zu schlafen.«
»Möchtest du, dass ich ein wenig für euch spiele? Vielleicht lenkt es Kenjin ab.«
Ishira stimmte sofort zu. »Das ist eine gute Idee!«
Togawa ließ sich auf dem Boden nieder und wickelte das alte inagische Holzinstrument mit dem bauchigen Körper und dem langen Hals vorsichtig aus seiner Umhüllung. Die vier aus Keikodarm hergestellten Saiten waren einzeln auf bewegliche Stege gespannt und wurden entweder gezupft oder mit einem Bogen gestrichen. Das Rehime befand sich schon seit vielen Generationen in Togawas Familie und stammte noch aus der Zeit vor der Eroberung.
Kanhiros Vater rutschte hin und her, bis er eine bequeme Haltung gefunden hatte, und schlug ein paar Mal die Saiten des Rehime an, um sie zu stimmen. Das Instrument war sein kostbarster Besitz. Als vor vielen Jahren eine der Saiten aufgrund ihres hohen Alters gerissen war, hatte er es tatsächlich irgendwie fertiggebracht, einen der Händler dazu zu überreden, ihm neue zu besorgen. Als Bezahlung hatte Togawa den Lohn von vier Monden auf den Tisch legen müssen. Wenn Hagare ihm nicht ausgeholfen hätte, hätten er und Kanhiro für lange Zeit nichts als Busho , den traditionellen dicken Brei aus Asagi, essen können.
Wassertropfen gleich quollen die Töne hervor und brachten die Luft zum Vibrieren. Trotz der schweren Bergwerksarbeit spielte Togawa mit verblüffend geschmeidigen Fingern. Ishira liebte seine Musik. Schon als Kind hatte sie ihn dafür bewundert, dass er neben der harten Arbeit im Bergwerk die Zeit und die Kraft gefunden hatte, das Instrument zu erlernen wie sein Vater vor ihm und davor dessen Vater. Er hatte ihr erklärt, die Musik würde ihm helfen, zu innerer Ruhe zu finden und seine Sorgen hinter sich zu lassen. Sie hatte damals noch nicht genau verstanden, was er damit meinte, aber sie hatte sofort gewusst, dass die Musik etwas Besonderes war. Sie hatte Togawa angebettelt, ihr das Spielen beizubringen und er hatte sofort eingewilligt. Er war erfreut gewesen, in ihr eine gelehrige Schülerin zu finden, nachdem er die Hoffnung, dass sein Sohn einmal die Familientradition fortführen würde, begraben hatte. Kanhiro hatte in dieser Hinsicht zwei linke Hände bewiesen.
Der letzte Ton zerstob zitternd in der Luft. Kenjins Atemzüge waren tiefer und gleichmäßiger geworden. Ishira lächelte froh. »Es hat gewirkt. Er ist eingeschlafen.«
Kanhiros Vater erhob sich leise. »Dann werde ich jetzt gehen. Ich lasse dir das Rehime da, falls du es noch einmal brauchst.«
Sie nahm das Musikinstrument vorsichtig entgegen. »Ich danke dir, Togawa. Ich wüsste gar nicht, wie wir ohne euch zurechtkämen.«
Zur Antwort lächelte er nur schweigend. Nachdem sich die Haustür hinter ihm geschlossen hatte, legte Ishira ihre Hand zärtlich auf das polierte Holz des Rehimes. Ihre Finger verlangten danach, über die Saiten zu streichen, aber sie wollte nicht riskieren, dass ihr Bruder davon wieder wach wurde. Es fühlte sich schon gut an, das Instrument nur zu berühren. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie das erste Mal selbst darauf gespielt hatte. Die Musik hatte sie mitgenommen auf eine Reise in die Tiefen ihrer Seele und zum Kern ihres Selbst geführt, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass es ihn überhaupt gab. Dort hatte sie schließlich die Ruhe und Kraft gefunden, von der Kanhiros Vater gesprochen hatte. Er hatte erstaunt gemeint, sie besäße eine natürliche Begabung für das Rehime. Es war ihr
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