INAGI - Kristalladern
bückte, um den Picknickkorb aufzuheben. Kanhiros Blick fiel auf den Blumenstrauß, der zerrupft daneben im Gras lag. Plötzlich musste er daran denken, wie er seiner Mutter einen ähnlichen Strauß Wildblumen ans Krankenbett gebracht hatte. Er hatte ihn ihr nicht mehr überreichen können. Als er begriffen hatte, dass sie tot war, waren ihm die Blumen aus der Hand gefallen und hatten sich auf dem Boden verteilt.
Eine Weile später saß Kanhiro allein auf der Bank am Herdfeuer und hing seinen Gedanken nach. Kenjin war bereits nach oben gegangen. Der Junge war auffallend schweigsam gewesen. Es war nicht schwer zu erraten, dass er sich Sorgen um seinen Freund machte. Wie sie alle. Als sie sich vorhin von Tasukes Familie verabschiedet hatten, hatte Seiichi blass und elend ausgesehen und sich kaum noch auf den Beinen halten können. Auch wenn sich die Schwäche wahrscheinlich in ein paar Tagen gelegt hätte, würde sich sein Zustand nur scheinbar bessern. Früher oder später würde er einen neuen Anfall erleiden, heftiger als die vorangegangenen, und irgendwann würde er sich von einem solchen Anfall nicht mehr erholen. Es kam nicht oft vor, dass ein Junge in seinem Alter am Kristallhusten erkrankte, doch wenn er weiterhin dem Kristallstaub ausgesetzt war, würde die Krankheit seinen Körper verzehrt haben, bevor er seine Mannbarkeit erreichte.
Kanhiro dachte an den schmerzvollen Ausdruck in Tasukes Gesicht. Für ihn musste es besonders schwer sein, Seiichis Leiden mit anzusehen. Auch wenn sein Freund es selten zeigte, liebte er seinen jüngeren Bruder über alles. Was würde er jetzt tun?
Ein unerwarteter Luftzug fuhr ihm in den Nacken. Erschrocken drehte er sich um. Wie als Antwort auf seine Frage stand Tasuke in der Haustür, eine Hand am Rahmen. Kanhiro hatte es nicht klopfen gehört, aber sein Freund erweckte auch nicht den Anschein, als hätte er sich mit solchen Förmlichkeiten aufgehalten. Im trüben Schein der ersterbenden Glut wirkte sein Gesicht düster und hohlwangig. »Ich muss mit dir reden«, sagte er leise.
Kanhiro ließ sich zurück auf die Bank sinken. »Setz dich.«
Tasuke nickte in Richtung Treppe. »Schläft Kenjin?«
»Ich denke ja. Er ist schon vor einer ganzen Weile in seiner Kammer verschwunden.«
Sein Freund ließ sich neben ihm nieder und fuhr sich nervös übers Kinn. »Denkst du immer noch über eine Rebellion nach?« wollte er wissen, die Augen auf die Glut gerichtet.
»Natürlich. Warum?«
»Ich bin dabei.«
In Anbetracht der Situation überraschte sein Sinneswandel Kanhiro nicht besonders, wenn er auch nicht so schnell damit gerechnet hatte. Dennoch fragte er vorsichtig: »Bist du dir ganz sicher?«
»Ja.« Tasuke leckte sich über die Lippen. »Als du mir im Frühling von deinen Plänen erzählt hast, dachte ich, du hättest den Verstand verloren«, gestand er. »Ich musste die ganze Zeit daran denken, wie du beinahe gestorben wärst, nachdem Henroth dich ausgepeitscht hatte.« Immer noch vermied er Kanhiros Blick. »Mir hat ständig die Furcht im Nacken gesessen, dass es meiner Familie ähnlich ergehen könnte, wenn ich sie in irgendwas hineinziehe.«
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte Kanhiro behutsam. »Ich habe es dir auch nicht übel genommen.«
Tasuke schien ihn gar nicht zu hören. »Ich hatte auch keinen so triftigen Grund, über eine Rebellion nachzudenken«, redete er weiter. »Nicht so wie du. Meine Familie war ja immer verschont geblieben und dank Ishira mussten wir nicht mal mehr die Lotterie fürchten. Ich habe mir gesagt, wenn wir uns still verhalten, lassen uns die Götter vielleicht noch eine Weile länger in Ruhe.« Er lachte abgehackt. »Aber so funktioniert das Leben nun mal nicht. Wenn ich weiter die Augen verschließe, wird mein kleiner Bruder sterben.« Endlich sah er Kanhiro an. »So ist es doch?«
Kanhiro blieb stumm. Tasuke presste die Kiefer aufeinander. »Ich werde das nicht zulassen«, sagte er entschlossen. »Und wenn ich dafür die Herrschaft der Gohari brechen muss, dann werde ich das eben tun.«
Kanhiro legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das sind die Worte, auf die ich gewartet habe.« Er grinste schief. »Ich verspreche dir auch, dass es diesmal keine so unüberlegte Aktion wird wie vor zwei Jahren. Wir werden vorher eine genaue Strategie ausarbeiten. Wenn wir wirklich etwas erreichen wollen, brauchen wir ohnehin die Unterstützung der anderen Dorfbewohner. Unsere einzige Stärke liegt in unserer zahlenmäßigen Überlegenheit und
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