INAGI - Kristalladern
tatsächlich ereignet. Es war auf dieser Reise das erste Mal gewesen, dass sie einen Hauer vor Shigen warnen musste. Danach hatte Kiresh Yaren sie nur noch bis zum Tor begleitet, sie in die Obhut des Anreshir übergeben und am Abend wieder abgeholt.
Inzwischen wäre sie froh gewesen, wenn sie ihn wieder nur so selten hätte sehen müssen. Ihn um sich zu haben, war deprimierender als ein Zwölft voller Regen. Seit ihrem Aufbruch hatte er kaum drei Worte mit ihr gewechselt, und das war immerhin vor zwei Tagen gewesen. Sein Schweigen schlug Ishira aufs Gemüt. Dabei hätte sie gern mehr über ihn erfahren – vor allem über seine Vergangenheit, die so eng mit Rondars verknüpft war. Und die ihm so schwer auf der Seele lastete, dass sein Leben keine Freude mehr zu kennen schien. Vielleicht war es eben dieses düster Geheimnisvolle seiner Persönlichkeit, das ihr Interesse weckte.
Als Ishira ihre Sitzposition veränderte, streifte ihre Hand die Hülle, in der das Rehime steckte. Am liebsten hätte sie das Instrument hervorgeholt, doch das wäre keine besonders gute Idee gewesen. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie Kiresh Yaren während ihrer Darbietung bei Telan Mebilor aus dem Zimmer gestürzt war. Auch an den folgenden Tagen hatte er sich jedes Mal sofort zurückgezogen, sobald Rondar oder der Heiler die Bitte äußerten, dass sie etwas auf dem Rehime spielte. Entweder mochte er Musik generell nicht oder es hatte etwas mit ihr zu tun. So oder so wollte Ishira sich nicht noch mehr zur Zielscheibe seines Unmuts machen.
Davon abgesehen hatte sie das Rehime zuletzt am Abend von Rondars Tod in der Hand gehabt. Mitten in ihrem persönlichen Abschied war sie erneut von einer dieser unheimlichen Halluzinationen heimgesucht worden. Der Drache, in dessen Körper sie sich wiedergefunden hatte, war schwer verletzt gewesen und vom Blutverlust geschwächt. Wie dem Amanori, der von den Kireshi in Noroko angeschossen worden war, hatte ihm ein Teil des Schwanzes gefehlt. Qualvoll hatte er sich auf einem Felsvorsprung dahin geschleppt, auf einen hellen Lichtschein zu. Jeder Schritt hatte Wellen von Schmerz durch Ishiras Wirbelsäule gesandt, doch sie hatte um jeden Preis das Licht erreichen wollen, das aus einer Spalte im Boden drang. Mit letzter Kraft hatte sie schließlich ihre Schwingen ausgebreitet und sich fallen lassen. Sie hatte sich mit dem Licht vereinigt – und danach wusste sie nichts mehr. Als sie erwachte, war bereits der nächste Morgen angebrochen und sie hatte angekleidet, aber zugedeckt auf ihrem Bett gelegen. Die Erinnerung ließ sie schaudern. War alles nur eine Ausgeburt ihrer Fantasie? Oder existierte irgendwo auf Inagi tatsächlich ein solcher Spalt aus Licht?
Es fiel Ishira zunehmend schwer, ihre Halluzinationen als wirre Träume abzutun, seit einer davon sich auf so erschreckende Weise in Realität verwandelt hatte. Dass der Drache aus ihrer letzten Vision keinen Schwanz gehabt hatte, ließ sich noch damit begründen, dass sich ihre Erinnerung an den echten Kampf mit ihren Traumbildern vermischt hatte. Dasselbe galt jedoch nicht für ihren Traum kurz vor dem Angriff. Sie war sicher, dass sie die Amanori nicht gesehen hatte, bevor die Wachen ihre Warnrufe ausgestoßen hatten. Wie war dann aber zu erklären, dass sich die Anzahl der anfliegenden Drachen exakt mit ihrer Wahnvorstellung gedeckt hatte? Das konnte unmöglich Zufall sein.
Waren diese Träume also doch Botschaften der Geister?
Ishiras Schläfen begannen zu pochen. Sie presste die Finger dagegen, aber der dumpfe Schmerz ließ sich nicht vertreiben. Sie hatte sich diese Fragen schon an die hundertmal gestellt. Ihre Gedanken drehten sich auf ewig denselben Bahnen im Kreis. War es möglich, dass die Geister ihre Seele in die Körper der Amanori versetzten, um ihr etwas zu zeigen? Hatte sie die realen Empfindungen der Drachen geteilt und durch ihre Augen gesehen?
Sie schob die Schale mit dem inzwischen kalt gewordenen Essen von sich und legte ihren Kopf auf die angewinkelten Knie. Es schien zu fantastisch und außerdem jagte die Vorstellung ihr Angst ein. Doch welche Erklärung blieb sonst übrig, wenn sie ausschloss, dass sie verrückt war?
* * *
Yaren lag auf dem Rücken und blickte hinauf in den Nachthimmel. Vereinzelt blitzte ein Stern in der Dunkelheit, doch das Wetter begann umzuschlagen. Immer mehr Wolken zogen auf und die Luft roch schwach nach Regen. Die Sklavin seufzte im Schlaf. Unwillkürlich wandte er den Kopf. Sie hatte ihm den
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