INAGI - Kristalladern
schmaler Streifen Morgenröte, der wieder schlechtes Wetter verhieß. Ihr Begleiter saß im Hemd vornüber gebeugt auf seiner Decke und hielt seine rechte Schulter umklammert. Selbst im fahlen Licht der Dämmerung sah sie, dass sein Gesicht vor Schmerz verzerrt war. Hatte er sich den Arm im Schlaf verrenkt? Sobald er merkte, dass sie wach war, ließ er seinen Arm beinahe hastig los und richtete sich auf. Gleichzeitig glitt die ausdruckslose Maske, hinter der er sich gewöhnlich verschanzte, zurück auf sein Gesicht und löschte den gequälten Ausdruck aus. Ishira verkniff sich die Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, und wünschte ihm einen guten Morgen. Er nickte nur steif. Seufzend angelte sie nach ihrem Mihiri, das sie am Abend zuvor neben sich auf den Sattel gelegt hatte. Ein Windstoß fuhr durch die Zweige über ihnen und zerrte an ihren Haaren. Sie warf einen Blick zum Himmel. Im Westen zogen bereits die ersten Regenwolken auf. Eilig streifte sie ihr Mihiri über den Kopf und brachte das Feuer in Gang, um Tee zu kochen.
Beim Frühstück sprach Kiresh Yaren wie erwartet kein einziges Wort. Allerdings ertappte Ishira ihn ein- oder zweimal dabei, wie er sie mit einem undeutbaren Blick beobachtete. Sie hätte zu gern gewusst, was in seinem Kopf vorging. Fragte er sich, ob sie ihn der Nacht gehört hatte? Wieso sein Lehrer sich ihretwegen so viele Gedanken gemacht hatte? Oder überlegte er, wie er sie am besten loswerden könnte, ohne sein Rondar gegebenes Versprechen zu brechen?
»Wann, glaubt Ihr, werden wir Aiboshi erreichen, Deiro?« erkundigte sie sich, nur um irgendetwas zu sagen.
Er hielt ihr seinen Becher hin, damit sie ihm Tee nachschenkte. »Je früher, desto besser«, erwiderte er wenig hilfreich. »Vor allem sollten wir uns beeilen, den Pass hinter uns zu bringen.«
»Gibt es dafür einen besonderen Grund?« fragte sie vorsichtig.
»Wir sind zu tief in den Bergen«, gab er zur Antwort, »und mir behagt diese Straße nicht.«
Sie sah ihn erschrocken an. »Erwartet Ihr einen Angriff der Amanori? Ich dachte, sie kämen nur aus den Bergen, um die Siedlungen anzugreifen.«
Er machte eine heftige Handbewegung. »Wenn diesen Ungeheuern danach ist, machen sie auch Jagd auf Reisende.«
Ishiras Blick fiel auf die Kette um seinen Hals. »Ihr habt schon gegen viele Amanori gekämpft, nicht wahr, Deiro?« fragte sie unbedacht.
An seinem Kinn spannte sich ein Muskel. »Ja«, erwiderte er kurz angebunden. Er stürzte seinen Tee in einem Zug hinunter, als hätte er es plötzlich eilig, die Unterhaltung zu beenden. »Pack alles zusammen. Wir brechen auf.«
Ishira ärgerte sich über ihre eigene Dummheit. Hätte sie das Gespräch etwas geschickter gelenkt, hätte sich vielleicht zum ersten Mal eine Unterhaltung ergeben können. Aber jetzt war es nicht mehr zu ändern. Resigniert schüttelte sie die letzten Tropfen aus ihrem Becher und beeilte sich, der Aufforderung des Kiresh zu folgen.
Sie waren noch keine Stunde unterwegs, als es zu regnen begann. Zuerst war es nur ein leichter Nieselregen, der jedoch rasch stärker wurde. Trotz ihres festen Umhangs war Ishira bald bis auf die Haut durchnässt. Bis zum Mittag goss es wie aus Kübeln und der dunkelgraue Himmel bot kaum Anlass zu hoffen, dass sich das Wetter in absehbarer Zeit bessern würde. Die Straße verwandelte sich in schlammigen Morast, der an den Hufen der Pferde saugte und das Vorankommen erschwerte.
Kiresh Yaren hatte im Hinblick auf die Passstraße nicht dramatisiert. Die spärlich mit Yusho-Zedern und Kaori-Fichten bestandenen Hänge zu beiden Seiten waren steil und boten weder Schutz vor dem Regen noch die Möglichkeit, einem Angriff auszuweichen. Darüber hinaus war der Weg selbst in keinem besonders guten Zustand. An vielen Stellen lagen Steine und ausgeschwemmte Erde, so dass die Pferde manchmal kaum wussten, wohin sie ihre Hufe setzen sollten, und gelegentlich sanken sie bis zu den Fesseln in den aufgeweichten Untergrund ein. Der gerade Rücken ihres Begleiters verriet Ishira, dass die ungeplante Verzögerung an seinen Nerven zerrte. Alle naselang schaute er nach oben. In den dichten Wolken wäre es den Amanori ein Leichtes gewesen, sich zu verbergen. Ishira konnte nur hoffen, dass die Drachen dieselben Schwierigkeiten hätten sie zu erspähen wie umgekehrt. Oder – noch besser – dass sie bei diesem Wetter gar nicht erst aufstiegen.
Am späten Nachmittag ließ der Regen endlich nach, doch die Wolken hingen so tief, dass Ishira meinte sie
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