Incarceron
auf dem Weg noch andere solche Zeichen finden.«
»Ich kann es kaum abwarten.« Keiro drehte sich wieder um und rollte sich zusammen. Gildasâ finstere Blicke bohrten sich förmlich in seinen Rücken. Dann sagte er, an Finn gewandt: »Zieh den Schlüssel heraus. Wir müssen uns gut darum kümmern. Es könnte sein, dass der Weg länger ist als gedacht.«
Finn sah die schier endlosen Weiten des Waldes vor sich und
fragte sich, ob sie für alle Ewigkeiten hier herumwandern würden. Vorsichtig griff er nach dem Schlüssel und zog ihn aus dem sechseckigen Loch. Er löste sich mit einem Klicken, und sofort lag die Höhle im Halbdunkel; die raschelnden Metallblätter lieÃen das Licht des Gefängnisses verschwimmen.
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Finns Glieder fühlten sich steif an, und er saà unbequem, aber er hielt still und lauschte. Es dauerte lange, bis ihm der rasselnde Atem des alten Mannes verriet, dass Gildas eingeschlafen war. Bei den Ãbrigen war er sich jedoch nicht so sicher. Keiro hatte sein Gesicht abgewandt. Attia war still wie immer, als hätte sie schon früh gelernt, dass sie nur dann am Leben bleiben würde, wenn sie keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zöge, sondern wenn man sie übersah. DrauÃen im Wald tobte der Sturm. Finn hörte Ãste brechen, und der Zorn des Gefängnisses darüber, dass man sich ihm widersetzte, kam von weither angepeitscht. Finn spürte die Kraft, mit der der Wind an den Bäumen rüttelte, und das Beben des Stammes aus Eisen über ihm.
Sie hatten Incarceron verärgert, indem sie eine seiner verbotenen Türen geöffnet und irgendeine Grenze überschritten hatten. Vielleicht würde das Gefängnis sie deshalb für alle Zeiten hier festhalten, noch ehe ihre Reise richtig begonnen hatte.
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Irgendwann konnte er nicht mehr länger warten.
Vorsichtig und unter gröÃten Anstrengungen, damit die herabgefallenen Blätter nicht raschelten, zog er den Schlüssel aus seiner Tasche. Er war kalt und von Raureif überzogen. Seine Finger hinterlieÃen Abdrücke darauf, und selbst der Adler darin war kaum zu erkennen, bis Finn die eisige Schicht abgewischt hatte.
Er umklammerte den Kristall ganz fest und flüsterte: »Claudia?«
Der Schlüssel blieb kalt und tot.
Keine Lichter bewegten sich darin. Finn wagte nicht, lauter zu rufen.
Doch dann murmelte Gildas etwas im Schlaf, und Finn nutzte diese Gelegenheit, sich noch weiter zusammenzukauern und den Schlüssel näher vor den Mund zu halten. »Kannst du mich hören? Bist du da? Bitte antworte mir.«
Der Sturm tobte. Sein Heulen ging einem durch Mark und Bein. Finn schloss die Augen, und eine tiefe Verzweiflung überfiel ihn. Ihm wurde übel bei dem Gedanken, dass er sich vielleicht alles nur eingebildet hatte, dass das Mädchen gar nicht existierte und dass er tatsächlich irgendeiner Gebärmutter des Gefängnisses entstammte.
Mit einem Mal war da eine weiche Stimme, als sei sie seiner eigenen Angst entsprungen: »Gelacht? Bist du sicher, dass es das war, was er gesagt hat?«
Finn riss die Augen auf. Das war die Stimme eines Mannes. Ruhig und wohlüberlegt.
Rasch vergewisserte sich Finn, dass die anderen nichts gehört hatten, und dann vernahm er die Stimme eines Mädchens: »⦠Natürlich bin ich mir sicher. Warum sollte der alte Mann über Gilesâ Tod lachen, Meister?«
»Claudia.« Finn war der Name entschlüpft, ehe er sich hatte bremsen können.
Sofort drehte sich Gildas herum, und Keiro richtete sich auf. Fluchend schob Finn den Schlüssel unter seinen Mantel, und als er sich auf die andere Seite rollte, sah er, dass Attia ihn beobachtete. Er wusste sofort, dass sie alles gesehen hatte.
Keiro hatte sein Messer gezogen. »Habt ihr das gehört? Da drauÃen ist jemand.« Seine blauen Augen waren hellwach.
»Nein.« Finn schluckte. »Das war ich.«
»Du hast im Schlaf geredet?«
»Er hat mit mir gesprochen«, sagte Attia leise.
Einen Moment lang starrte Keiro sie beide an. Dann lehnte er sich zurück, doch Finn wusste, dass er nicht überzeugt war. »Hat er das?«, fragte sein Eidbruder mit samtweicher Stimme. »Und wer ist Claudia?«
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Sie ritten in zügigem Galopp, über ihren Köpfen das dunkelgrüne Blätterdach der Eichen, die rechts und links des Weges standen. »Und du glaubst Evian?«
»In dieser Sache
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