Indische Naechte
gegenüber so entspannt und freundlich gegeben hatte. Allerdings hatte sie sich durch den Tod ihres Vaters in einem Schockzustand befunden, so daß ihr normales Verhalten beeinträchtigt gewesen sein mußte. Jedenfalls schloß er es aus der Tatsache, daß sie sich von ihm zurückgezogen hatte, sobald ihr inneres Gleichgewicht wiederhergestellt war.
Geistig jedoch hatte sie sich nicht zurückgezogen. Auf der Reise nach Baipur war sie eine wunderbare Gefährtin gewesen, die gerne sprach, wenn er es wollte, aber auch völlig zufrieden mit langen Schweigeperioden war. Doch sie wollte nicht mehr berührt werden, denn sie hatte auch den kleinsten Kontakt mit ihm gemieden. Zudem hatte sie versucht, es unauffällig zu tun, aber es war ihm nicht entgangen.
Ian bemerkte alles, was sie betraf.
Der Abscheu, den sie gezeigt hatte, als sie versuchte, Emery zu entkommen, unterstützte Ians Theorie. Laura hatte vor ihrem Verehrer keine Angst gehabt. Sie mußte ihn mögen, sonst hätte sie seine Entschuldigung nicht so großzügig angenommen. Dennoch hatte sie seine Umarmung gehaßt, obwohl er ein gutaussehender und anständiger junger Mann war.
Vielleicht rührte ihr Widerwille von einem traumatischen Kindheitserlebnis mit Männern her, vielleicht war sie auch einfach so geboren — es gab ja solche Frauen. Aber was immer auch der Grund sein mochte, offensichtlich wollte sie keine sexuelle Beziehung.
Laura wollte keine Ehefrau, und er konnte kein Ehemann mehr sein. Er grinste freudlos vor sich hin. Sie waren ganz und gar füreinander geschaffen.
Seit er sich der Tatsache gestellt hatte, daß er ein Eunuch war, hatte er sich immer als fehlerhaft und unzulänglich gefühlt. Doch die Manneskraft war nur ein kleiner Teil, der ein Geschlecht ausmachte. Viele Männer entsagten der körperlichen Liebe, manche aus religiösen Gründen, andere aus Mangel an Gelegenheit, wieder andere einfach nur so.
Was machte einen Mann aus?
Ian hatte immer die Gesellschaft von Frauen genossen, und das hatte nichts mit eventuellen sexuellen Qualitäten zu tun. Der Lieblingsspielkamerad seiner Kindheit war seine Schwester gewesen. Er war immer davon ausgegangen, daß er eines Tages heiraten würde, denn er wollte Kinder und eine Frau, die ebenso Freund wie Bettgefährtin war. Sobald sein Einkommen eine Höhe erreicht hatte, die eine Heirat möglich machte, hatte er sich umgeschaut. Und keine Zeit verschwendet, als er das richtige Mädchen kennengelernt hatte.
Nun war ein Leben, wie er es sich vorgestellt hatte, für immer außer seiner Reichweite. Doch eine Ehe war mehr als Sex - sie bedeutete auch Kameradschaft und eine wirtschaftliche Partnerschaft. Er war noch immer recht gut in der Lage, für eine Frau zu sorgen, sie zu beschützen oder ihr das Gefühl von Wärme zu geben. Und die Liebe selbst existierte in vielen Formen, von denen die meisten nichts mit Leidenschaft oder Körperlichkeit zu tun hatten.
Durch puren Zufall hatte er eine Frau kennengelernt, die sich über einen Mann freuen würde, der keine sexuellen Forderungen stellte, ihr aber einen Lebensunterhalt, Freundschaft und die Aussicht auf Liebe bieten konnte.
Seine Lippen preßten sich zu einem schmalen Strich zusammen. Es würde leicht sein, herauszufinden, ob Laura bereit war, über sein Angebot nachzudenken.
Alles, was er zu tun hatte, war, seine Seele offenzulegen.
Am nächsten Morgen frisierte Laura ihr Haar mit besonderer Sorgfalt, zog ihr hübschestes Reitkleid an und ließ den Koch einen Korb mit Kuchen und einem Krug heißen Tees packen. Sie war fertig und wartete, als Ian sie abholen kam.
Er begrüßte sie herzlich, schien jedoch in Gedanken. So sprachen sie nicht viel, während sie auf die Hügel zuritten. Laura störte das nicht, es reichte ihr, bei ihm zu sein. Die Morgenluft schien etwas Besonderes in sich zu haben, und sie versuchte, dies in ihrer Erinnerung zu speichern — dies und all die anderen Einzelheiten ihres Rittes. In Zukunft würde sie nur noch in ihren Gedanken in diese Gegend und diese Zeit ihres Lebens zurückkehren können. Und selbst alte, zickige Jungfrauen durften schließlich träumen.
Nach einer halben Stunde Ritt erreichten sie einen winzigen, verlassenen Schrein. Es war ein friedlicher Ort — Schlingpflanzen rankten sich über die alten Steine, und fröhliche Affen schwangen sich durch die Bäume am Rand der blütenübersäten Lichtung. Der Schrein selbst bestand lediglich aus einer einzigen, freistehenden Mauer, auf der verwitterte
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