Individuum und Massenschicksal
wäre, dann hätte er keinen Spielraum für seine schöpferischen Fähigkeiten, die ja immer mit dem Lebenssinn verbunden sind, und im Normalzustand ist der Paranoide davon überzeugt, daß das Leben sinnlos ist. Wenig Gutes kam dabei heraus, wenn Psychoanalytiker den Assoziationen eines solchen Menschen zuhörten. (Pause.) Oft hat der als Paranoiker oder als Schizophrener etikettierte Mensch eine derartige Angst vor seiner eigenen Energie, seinen Impulsen und Gefühlen, daß diese von ihm fragmentiert, verdinglicht und als von außen statt von innen kommend gesehen werden.
Vorstellungen von Gut und Böse werden übertrieben und das eine vom anderen abgetrennt. Aber auch darin finden die schöpferischen Fähigkeiten noch eine Möglichkeit zum Ausdruck. Der Betreffende fühlt sich außerstande, sie anders auszudrücken. Solche Menschen haben Angst vor der Wucht ihrer eigenen Persönlichkeit. Ihnen wurde gelehrt, daß der kraftvolle Ausdruck von Energie etwas Ungehöriges und geistig-seelische Eigenmacht unheilvoll ist und daß aus dem Selbst kommende Impulse zu fürchten sind.
Was bleibt einem solchen Menschen dann noch übrig, als diese Impulse - zum Guten wie zum Üblen - nach außen zu projizieren und daher jeden Ausdruck selbständigen Handelns effektiv zu blockieren?
(Nach einer Pause um 22.07 Uhr:) Der Begriff der Schizophrenie wird zu einem alles abdeckenden Sammelbegriff, mit dem die sich Autorität anmaßende Instanz der Psychologie herrschender Lehrmeinung den individuellen Ausdruck persönlicher Sinnhaftigkeit auf eine verallgemeinerte Massenerscheinung reduziert. Die unter Wahnideen, insbesondere unter Verfolgungswahn, Leidenden sind Menschen, die leider unerschütterlich den schlimmsten Abirrungen von Wissenschaft und Religion Glauben schenken. Paranoiker und Schizophrene versuchen, Sinn in einer Welt zu finden, die ihnen als sinnlos dargestellt wurde, und in abgeschwächter Form zeigen sich ihre Tendenzen überall in der Gesellschaft.
Kreativität ist ein dem Menschen innewohnender Drang, der viel wichtiger ist als das, was die Wissenschaft als die Befriedigung der Grundbedürfnisse bezeichnet. In diesem Sinne ist Kreativität das tiefste Grundbedürfnis. Ich spreche hier nicht etwa von irgendeinem zwanghaften Bedürfnis, zum Beispiel Ordnung zu schaffen - was einer Verengung der geistig-seelischen oder der räumlich-materiellen Umwelt gleichkäme -, sondern von einem der Gattung eingeborenen machtvollen Trieb zu schöpferischem Tun und zur Erfüllung von Werten emotionaler und spiritueller Natur. (Lauter:) Und wenn der Mensch diese nicht findet, dann werden ihn die sogenannten Grundbedürfnisse, Nahrung, Obdach und sexuelle Befriedigung zu suchen, nicht am Leben erhalten.
Ich will damit nicht bloß sagen, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt. Ich sage damit, daß der Mensch, der in seinem Leben keinen Sinn findet, nicht leben wird, ganz gleich ob er Brot findet oder nicht. Er wird weder die Energie zum Broterwerb aufbringen noch seinen Impulsen zum Broterwerb vertrauen.
Es gibt also Naturgesetze, denen alle Formen des Lebens und alle Wirklichkeiten unterworfen sind - Gesetze der Liebe und Zusammenarbeit -, und das sind die Grundbedürfnisse, von denen ich spreche.
(Flüsternd:) Ende der Sitzung.
(»Schön. Gute Nacht.«)
(22.17 Uhr. »Also das ist seltsam«, sagte Jane, als Seth sich zurückzog. »Es ist erst viertel nach zehn, aber ich fühle, daß das, was er uns gegeben hat, dem Inhalt nach weit über die abgelaufene kurze Zeit hinausreicht. Vor der Sitzung wußte ich, daß er auf Schizophrenie und so weiter eingehen würde, aber er ging über bloße Andeutungen hinaus...«
Tatsächlich war ihr Vortrag oft intensiv und für mein Schreibtempo ziemlich anspruchsvoll gewesen.)
Sitzung 866, Mittwoch, den 18. Juli 1979
(Seit vor drei Wochen die 863ste Sitzung abgehalten wurde, hat Jane nur zwei planmäßige Sitzungen - beide mit anderer als für dieses Buch geeigneter Thematik - und zwei persönliche Sitzungen abgehalten.
Seth zufolge ist die Sitzung von heute abend in den nach 21.52 Uhr erfolgten Äußerungen auch kein Buchdiktat; aber Jane und ich legen das Material hier vor, weil Seth darin auf Fragen zurückkommt, die ich früher in »Individuum und Massenschicksal« gestellt hatte: Welche Rolle spielen beispielsweise Pockenviren im menschlichen Leben? Wie ich in den einführenden Anmerkungen zur 840sten Sitzung schrieb: »Worin besteht die Beziehung zwischen dem Wirtsorganismus und
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