Ines oeffnet die Tuer
macht es überhaupt hier? Ich hatte doch gar keinen Wunsch!
Nein, das stimmte so nicht. Sie hatte sich danach gesehnt, mit Karol allein zu sein, ungestört, ohne Beobachter. Das Refugium hatte ihr den Wunsch erfüllen wollen. Und sie hatte sich darauf eingelassen.
»Ich war so dumm«, zischte sie in die Dunkelheit und schlug sich wütend gegen die Stirn.
»Aber, aber, Ines. Nicht doch!«
Sie fuhr zusammen, als sie die Stimme vernahm, einen dunklen, kräftigen Bass, der aus der Tiefe des Flurs kam.
»Worüber ärgerst du dich? Lass mich daran teilhaben.«
Aus den Schatten zu ihrer Linken schälte sich eine massige Gestalt und schritt auf sie zu.
Der alte Herr!
Seinen Bowlerhut hatte er abgenommen. Ein Kranz weiÃer Haare wuchs aus dem altersfleckigen Schädel. Er trug wieder den edlen Gehrock mit den Hirschhornknöpfen. Die Hände hielt er hinter dem Rücken verborgen.
»So sehen wir uns wieder, an ungewohntem Ort.« Der alte Herr lächelte gütig. »Deine Schule, nicht wahr? Was wird denn gefeiert?«
»Was machen Sie hier?«, stieà Ines hervor.
»Nun, ich habe dich gesucht.« Er lächelte mit dünnen Lippen. »Und gefunden. WeiÃt du, mir scheint, als hättest du mich neulich ein wenig angeflunkert. Darüber wollte ich mit dir reden.«
Ines wollte weglaufen, aber ihre Beine gehorchten nicht. Starr vor Angst blickte sie auf die riesenhafte Gestalt des alten Mannes.
»Der Schuh, Ines ⦠der Schuh deiner GroÃmutter. Sagtest du nicht, du hättest nichts von ihm gewusst? Nun, ich hatte den leisen Verdacht, dass dem nicht so ist. Deswegen gab ich ihn dir. Ich ahnte, dass du ihn dorthin bringen würdest, wo er herkommt.« Er hielt inne und musterte Ines. »In das Refugium â¦Â«
»Ich weià ja gar nicht, wovon Sie reden«, sagte Ines heiser.
»Oh, du weiÃt es.« Er nickte nachdrücklich. »Der Raum, der Wünsche erfüllt. Du kennst ihn ebenso gut wie ich. Agnes hat ihn dir gezeigt, ihn dir sogar geschenkt, wie ich annehmen darf. Deshalb konnte ich ihn nicht finden.« Der Blick seiner weiÃen Augen wurde stechend. »Der Raum gehört mir, Ines!«
»Sie lügen«, stieà sie hervor.
»Werde nicht frech. Für mich steht fest, dass nicht mehr Agnes das Refugium besitzt, sondern du. Ich spüre so etwas. Jemand muss den Schuh in das Refugium zurückgebracht haben ⦠und das kannst nur du gewesen sein.«
Er beobachtete jede Regung in ihrem Gesicht. Es fühlte sich an, als würde er bis in ihr Inneres blicken.
»Agnes hat dir sicher gesagt, dass jeder Gegenstand aus dem Refugium eine Spur in der Welt hinterlässt. So wie der hübsche Schuh mit dem Schmetterling, der ihr in den Fluss fiel. Er wurde ans Ufer geschwemmt, jemand fand ihn und bewahrte ihn auf, und auf verschlungenen Pfaden gelangte er zu mir.« Triumph glitzerte in den weiÃen Augen. »Ein Gegenstand aus dem Refugium bleibt immer mit ihm verbunden, musst du wissen. So wie dieses Buch â¦Â«
Der alte Herr nahm langsam die Hände hinter dem Rücken hervor.
Ines biss sich auf ihre geballte Faust, um nicht aufzuschreien.
Vopelians Buch!
Der alte Herr hielt es in seinen wächsernen Fingern, zwischen denen das Leder des Einbands noch spröder wirkte als sonst.
»Wie unvorsichtig von dir, es zu verleihen«, tadelte sie der alte Herr. »Du hättest wissen müssen, dass es früher oder später den Weg zur mir findet, so wie der Schuh. Und ist es nicht ein aufschlussreiches Buch? Die Schrift des Kappadokios. Ich habe sie seit Jahrhunderten nicht gesehen. Wo hast du sie her? Ich spüre, dass sie aus deinem Refugium stammt, aber wie ist sie dorthin gelangt?« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Du bist nicht unbegabt, Ines. Nicht jeder vermag sich so schnell ein Refugium anzueignen, nicht jeder kennt seine eigenen Wünsche so gut, dass sie auch wirklich in Erfüllung gehen. Dieses Kleid, das du trägst, hast du ebenfalls von dort, nicht wahr?«
»Bitte lassen Sie mich gehen«, bat Ines mit bebender Stimme. »Ich habe Ihnen nichts getan.«
»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.« Der Mann breitete die Arme aus, um seine Harmlosigkeit zu unterstreichen. »Ich will dir helfen, Ines. Das Refugium ist ein gefährlicher Ort. Wie unverantwortlich von Agnes, es dir zu überlassen. Einem Kind!« Sein Blick wurde bohrend. »Gerne will
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