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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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halbe Minute später begrüßte mich Claire Buckley mit Tess Bishop auf dem Arm, die in eine hellgelbe Decke gewickelt war und schlief. »Sie war quengelig«, erklärte Claire geistesabwesend. »Sie wollte sich einfach nicht hinlegen lassen.« Sie trat zur Seite. »Kommen Sie herein.«
    Ich trat in die Eingangshalle. Es machte mich nervös, Tess auf Claires Arm zu sehen, doch ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen. Stattdessen fixierte ich Tess’ kleine Finger, die sich um die Einfassung der Decke klammerten. Ihre winzigen Fingernägel waren rosa wie Zuckerwatte, und ihre Haut schimmerte wie Seide. »Sie ist wunderschön«, sagte ich.
    Claire blickte auf das Baby hinab, lächelte und nickte zustimmend.
    Unsere Lebensgeschichten nehmen sehr früh und gänzlich ohne unsere Zustimmung Gestalt an. Im Alter von fünf Monaten hatte Tess ihre Zwillingsschwester durch einen Mord verloren und wurde zeitweilig von der Geliebten ihres Vaters versorgt. Sie sog Gewalt, Falschheit und Gefahr praktisch mit der Muttermilch auf. Ich fragte mich, ob sie ihre ersten zwanzig Lebenswochen auf diesem Planeten wohl je bewältigen würde. »Sie tut mir so Leid«, sagte ich mechanisch.
    »Wenigstens hat sie Brooke nie wirklich kennen gelernt«, erwiderte Claire leise. »Es ist besser so.«
    Damit hatte sie vermutlich Recht, trotzdem fand ich nicht, dass es Claire Buckley zustand, das zu sagen. Am liebsten hätte ich sie darauf hingewiesen, dass Tess einer anderen Frau gehörte. »Haben Sie vor, eines Tages eigene Kinder zu bekommen?«, fragte ich.
    Die Frage schien sie zu überraschen. Vielleicht betrachtete sie Tess tatsächlich als ihr eigenes Kind, möglicherweise fand sie aber auch nur die Frage zu persönlich. »Ich habe noch nicht ernsthaft darüber nachgedacht, ob ich Kinder haben will«, sagte sie. »Schließlich bin ich noch jung.«
    Das war mir durchaus aufgefallen und Darwin Bishop ebenfalls. Claires Jugend war schwer zu übersehen. Ihr braunes Haar, das sie bei meinem letzten Besuch zu einem Zopf gebunden hatte, war dieses Mal offen und reichte bis zu ihrer Taille. Sie trug Shorts und eine schlichte hellblaue, ärmellose Bluse, die verrieten, dass sie die geschmeidige Muskulatur einer Turnerin besaß. Ich betrachtete ihr Gesicht und erkannte, dass sie nicht einfach nur hübsch, sondern eine geborene Schönheit war, mit tiefbraunen Augen, vollen Lippen und hohen Wangenknochen, die Eleganz und Sinnlichkeit verschmolzen. »Sie haben bestimmt Recht«, pflichtete ich bei. »Sie haben noch jede Menge Zeit. Und Sie werden hier gebraucht.«
    »Es freut mich, dass ich helfen kann. Die Bishops waren sehr gut zu mir«, sagte sie. Tess bewegte sich in ihrer Decke und streckte ihre Ärmchen aus, sodass Claire sie auf ihrem Arm zurechtrücken musste. »Sie will bald ihr Fläschchen. Ich bringe Sie zu Win.«
    Wir machten uns auf den Weg in Richtung Arbeitszimmer. »Ist Julia zu Hause?«, erkundigte ich mich.
    »Ich habe ihr den Tag freigegeben«, scherzte Claire.
    »Nett von Ihnen«, bemerkte ich tonlos.
    Sie musterte mich kühl. »Sie ist nach Vineyard gefahren, um ihre Mutter zu besuchen. Die beiden kommen am späten Nachmittag zusammen zurück.« Sie machte eine kurze Pause. »Brookes Beerdigung ist um fünf.«
    »Ich hatte vor hinzugehen«, erklärte ich.
    »Ich bin sicher, die Familie ist Ihnen dafür dankbar«, sagte sie. »Ich bleibe hier bei Tess. Ich denke, wir können ihr die Atmosphäre in der Kirche ersparen.«
    »Vermutlich eine gute Idee«, pflichtete ich bei, obgleich ich es nicht für die beste Idee hielt. Ich hätte es lieber gesehen, wenn Tess in der Nähe von Julia oder Julias Mutter geblieben wäre.
    Darwin Bishop arbeitete an einem Laptop, als Claire und ich vor der Tür seines Arbeitszimmers stehen blieben. Abscheu wallte in mir hoch, als ich ihn dort sitzen sah. Die Intensität des Gefühls überraschte mich.
    Er sah mich über den Rand seiner Halbbrille hinweg an. »Kommen Sie doch bitte herein«, forderte er mich auf.
    »Ich bringe Sie dann nachher wieder zur Tür«, sagte Claire zu mir.
    Ich schaute ihr nach, während sie mit dem Baby davonging, dann trat ich ins Arbeitszimmer. Vor den Porträts von Bishops Polopferden blieb ich kurz stehen, um mir ein wenig Zeit zu geben, mich wieder zu beruhigen.
    »Doktor«, sagte Bishop und bedeutete mir, auf einem der Sessel vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, ohne seinen Blick von dem Computerbildschirm zu wenden.
    »Brauchen Sie noch ein paar Minuten?«, fragte

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