Inferno - Höllensturz
der Bibliothek. Walter sah ihnen aus großen Augen zu, wie sie sich glücklich anlächelten und ihre Lippen sich zu einem Kuss fanden.
Er blickte auf seinen Chilidog; die einzige Gesellschaft, die er heute Nacht noch erwarten durfte. »Die Henkersmahlzeit eines Verdammten«, dachte er selbstmitleidig. Wenigstens waren die Chilidogs hier ziemlich gut. Als er das Brötchen in die Hand nahm, tropfte die Soße seitlich hinaus auf den Teller. Walter bemerkte nicht, dass der Schatten um seine Füße herum sich unabhängig von ihm bewegte, doch warum sollte er das auch bemerken?
Die ersten beiden Bissen schmeckten gut. Beim dritten Bissen allerdings wanderte sein Blick zu dem Glasfenster zur Straßenseite hin, und er bemerkte ein Pärchen, das vorbeispazierte. Sie hielten Händchen.
Dann blieben sie stehen.
Sie küssten sich.
Walter fiel der dritte Bissen aus dem Mund.
Es war Candice mit irgendeinem stämmigen Footballspieler.
Walter war versucht, Gott zu verfluchen. Gab es denn keinen Frieden für ihn? Nicht einmal in den letzten Augenblicken seines Lebens? Warum konnte das Schicksal ihn in dieser schweren Stunde nicht einfach in Ruhe lassen? Warum packte Gott ihn beim Schopf und zog sein Gesicht noch ein letztes Mal durch den Abfluss seines Lebens?
Sie trug ein lavendelfarbenes Spaghettiträger-Shirt, das ihren Doppel-D-Busen noch betonte. Dazu einen kurzen, engen Jeansminirock über ihren endlos langen, gebräunten Heidi-Klum-Beinen, die in Stilettos endeten. Ihr taillenlanges Haar schimmerte, während sie und der Footballspieler sich immer gieriger küssten und immer fester umklammerten. Walter sah durch die dunkle Scheibe zu, wie die Hand des Mannes sich von hinten unter ihren Rock schob. Candices Hand war ebenfalls vollauf beschäftigt, sie knetete seinen Schritt. Ja genau, das wollte ich sehen , dachte Walter. Wenn er das Gewehr jetzt bei sich hätte – in diesem Moment -, was würde er dann machen?
Die beiden auch erschießen?
Hmmm ...
Die Vorstellung erregte ihn plötzlich, doch ach!, er wusste, es war nur eine flüchtige Fantasie. Dazu fehlt mir der Mumm , das wusste er nur allzu gut. Das Äußerste, was er zustande bringen würde, war, seinen eigenen Schädel wegzupusten.
Candice und der Kerl schlenderten weiter. Hatten sie ihn durch das Fenster gesehen? Kicherte sie etwa? Nun, da sie Mathe mit Bravour abgeschlossen hatte, wozu sollte sie Walter noch brauchen? Colin hatte Recht. Sie ist eine gemeine blonde Schlampe, und ich bin ein Vollidiot …
Er stand auf und rannte zum Klo. Sein Magen drehte sich plötzlich um. Die Tür knallte, er stolperte und fiel auf die Knie – praktischerweise genau vor die Kloschüssel, in die er die ersten beiden Bissen seines Chilidogs kotzte. Viel war es nicht, nur ein kurzer, heftiger Ausbruch, und dann war sein Magen wieder leer. Doch er fühlte sich, als habe er mehr seinen Herzens- als seinen Mageninhalt von sich gegeben.
Benommen stand er auf und wischte sich den Schweiß mit dem kurzen Ärmel seines extrem spießigen Papageiengrün-weiß-gestreiften T-Shirts ab. Er betätigte die Klospülung und holte tief Luft. Machte jeder, der kurz vor dem Selbstmord stand, so ein Vorspiel durch? Wieder einmal schien es einfach nicht fair, nichts war fair. Der letzte Abend eines Jungen auf dieser Erde sollte ruhig sein, gedämpft, ein wenig transzendent vielleicht sogar.
Er lehnte sich an die wackelige Wand der Klokabine. Die graue Farbe war mit Graffitis beschmiert, doch da dies eine Collegecafeteria war, wunderte sich Walter nicht über die intellektuell eher gehobenen Kritzeleien. VOLLER KLANG UND WUT, DAS NICHTS BEDEUTET, hatte jemand aus Macbeth zitiert. SINKT IN EINER STRÖMUNG v DANN STEIGT DER STATISCHE DRUCK p o . Die Bernoulli’sche Gleichung! , dachte Walter. Das erkannte er sofort. Er beugte sich hinunter, um weiter zu lesen, was die Leute so geschrieben hatten. Gedichte , bemerkte er. Dann hielt er kurz inne. Hoffentlich sind es hübsche Gedichte. Am letzten Abend seines Lebens wäre er dankbar für ein paar hübsche, fröhliche Gedichte. Carl Sandburg oder Robert Frost …
Mein Blut durchsiebt die Asche;
all meine Musen sind tot
und bei deinem Lächeln seh ich rot
Walter erbleichte. Er las das nächste Gedicht.
Es gibt keinen Grund mehr zu staunen,
Zeit für den letzten Ritt.
Warum steckst du nicht den Kopf in die Schlinge
und gibst dem Scheißstuhl einen Tritt?
Von Frost oder Sandburg war das sicher nicht. Er taumelte aus dem Klo. Wirklich hübsche
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