Inkarnationen 02 - Der Sand der Zeit - V3
ziemlich grobschlächtig
sein, aber selbst ich erkenne, daß das nichts bringt. Manche dieser Ärzte machen sich ein
Vergnügen daraus, Leute zu piesacken. Da ist es besser, wenn es auf Ihre Weise geschieht.«
Norton dachte an die Ärztin, die ihn auf seine Fruchtbarkeit untersucht hatte. Er seufzte.
»Ja.«
Das Gespenst verschwand. Schweren Herzens ging auch Norton davon, um mit Orlene zu
sprechen.
Zuerst wollte sie es nicht glauben. Doch als der Arzt die Krankengeschichten und Symptome
verschiedener befallener Familienmitglieder miteinander verglich und die Merkmale bestätigte,
blieb ihr nichts anderes mehr übrig. Dann wurde sie wütend - auf Gawain, auf die Natur, auf
Norton, auf sich selbst... auf alles. Nachdem sie verzweifelt überlegte, wie das Kind doch noch
zu retten sei, versank sie in eine entsetzliche Depression.
Nichts konnte sie trösten.
Norton war hilflos, als die Gesundheit des Babys schließlich nachließ. Gawain hatte recht gehabt;
die Krankheit hatte sich in den letzten Generationen wesentlich verschlimmert, und sie war
gräßlich. Er konnte Orlene nicht trösten, denn inzwischen war es offensichtlich, daß ihre Liebe
zu Norton erst an zweiter Stelle stand.
Das Ende kam mit scheinbarer Plötzlichkeit, obgleich fast ein Jahr seit der Geburt des Kindes
verstrichen war. Orlene saß, in Schwarz gehüllt, an der Wiege, in der das dahinsiechende Kind
lag. Sie war nur mehr ein Schatten ihres früheren Selbst und wirkte fast ebenso ausgezehrt wie
Gawain II. Beide, Wissenschaft und Magie hatten versagt; sie konnten das Kind lediglich in Ruhe
lassen. Es war eine Totenwache.
Der Tod kam in personifizierter Gestalt. Er war eine in schwarz gekleidete Figur mit einer
Kapuze. Orlene erblickte ihn als erste, stieß einen erstickten Schrei aus und warf ihre
ausgemergelten Arme schützend um ihr Kind. Der dunkle Eindringling hielt inne, und nun konnte
Norton ihn klarer erkennen, da seine Konturen immer deutlicher wurden.
»Mußt du das tun?« fragte Norton die Gestalt. »Wer bist du, daß du solches Leiden bringst?« Die
Gestalt wandte sich zu ihm um. Unter der Kapuze war ein Totenschädel, ohne jedes Haar, ohne Haut,
ohne Fleisch. Seine Augen bestanden aus quadratischen Höhlungen. »Ich bedaure die Notwendigkeit
des Ganzen«, sagte er mit merkwürdig sanfter Stimme.
»Ich bin Thanatos, und es ist meine Aufgabe, die Seelen jener zu holen, die in ausgeglichenem
Zustand verscheiden.«
»Du bist... die Inkarnation des Todes?«
»Die bin ich.«
»Und es bereitet dir Vergnügen, unschuldige Babys zu stehlen?«
Thanatos' dunkle Kapuze wandte sich zuerst zu Orlene und dann zur Wiege, um schließlich wieder
Norton anzuschauen. Er zog einen Ärmel zurück, um eine schwere schwarze Armbanduhr freizulegen.
Mit einem Skelettfinger berührte er den Zeitmesser. »Sterblicher, folge mir einige wenige
Minuten, dann werden wir uns unterhalten.«
Norton spürte, wie diese düstere Gestalt ihn mit eisiger Ehrfurcht erfüllte.
Er hatte zwar an die Inkarnationen nicht so recht geglaubt, doch Thanatos war nicht zu
übersehen.
Sie verließen das Zimmer. Orlene bewegte sich nicht.
Sie stand neben der Wiege, die dünnen Arme immer noch in einer vergeblichen Geste des Schutzes
ausgestreckt. Sie bewegte sich nicht, sie atmete nicht einmal. Die Zeit schien stehengeblieben zu
sein.
Draußen vor dem Apartment in der Halle stand ein edles schwarzes Pferd. Es überraschte Norton
nicht. Er stieg hinter Thanatos auf. Dann machte das Pferd einen Satz.
Sie schossen durch die Ebenen der Stadt, als wären es holographische Bilder. Hallen, Apartments,
Wartungsbereiche - alle rasten sie wie die Segmente eines Puppenhauses vorbei, während das Pferd
emporjagte. Kurz darauf hatten sie den Park auf der Erdoberfläche erreicht. Schon ritten sie
durch den Wald.
Sie gelangten an eine sonnenbeschienene Lichtung, das Pferd blieb stehen, und die beiden Reiter
saßen ab.
Während das Pferd zu grasen begann, setzten sich Thanatos und Norton auf einen umgestürzten Baum.
Es war gar nicht mehr seltsam, sich mit einem Skelett in einer Kutte zu unterhalten.
»Ich möchte die Sache mit dem Baby erklären«, sagte Thanatos. »Es ist nicht unschuldig, so
seltsam dir das auch erscheinen mag. Er befindet sich im moralischen Gleichgewicht. Ich besitze
Geräte, mit denen ich Seelen messe und bestimme, ob das angehäufte Böse das Gute überwiegt.
Überwiegt das Gute, gelangt die Seele in den Himmel; überwiegt das Schlechte, kommt sie
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