Inkarnationen 04 - Das Schwert in meiner Hand - V3
Stundenglas leuchtete hell
auf, und schon war Chronos verschwunden.
»Wenn er rückwärts lebt«, fragte Mym, »warum spricht er dann nicht auch rückwärts?«
»Er beherrscht die Zeit eben«, erläuterte Thanatos. »Er dreht den Zeitablauf nur für sich
persönlich um, und das auch nie für eine längere Frist. Aber wie Ihr selbst hören konntet, rufen
auch kürzere Umkehrungen bei ihm einige Verwirrung hervor. Er ist ein braver Mann und eine
verläßliche Inkarnation, aber Schicksal ist der einzige von uns, der ihn wirklich verstehen und
begreifen kann. So denn, da Eure Frage beantwortet ist...«
»Haltet ein! Wartet! Meine Frage ist keineswegs beantwortet!« sang Mym. »Ich weiß nichts mit
dieser Aussicht anzufangen, zur Inkarnation des Krieges zu werden. Alles, was mich jetzt
interessiert, ist eine schnellstmögliche Lösung zur Beseitigung der Not!«
»Ihr dürft nicht so kurzfristig denken«, ermahnte ihn Thanatos. »Sobald Ihr Mars geworden seid,
wie Chronos es vorhergesagt hat, seid Ihr in einer Position, in der Ihr alle Nöte beseitigen
könnt, die Euer Herz bewegen.«
»Aber damit ist den Hungernden hier nicht geholfen!«
Thanatos nickte. »Da habt Ihr recht. Im Interesse von guten Beziehungen zwischen den
Inkarnationen will ich jemanden rufen, der Euch sicher weiterhelfen kann.« Er blickte hinauf in
den Himmel. »Gäa, hört Ihr mich?«
»Gäa?« wiederholte der Prinz. Er glaubte allmählich, überhaupt nichts mehr zu verstehen.
Dünner Dunst bildete sich in der Luft, verdichtete sich zu Nebel und endlich zu Rauch, aus dem
sich eine menschenähnliche Form entwickelte, die sich in eine große, ganz in Grün gekleidete Frau
entwickelte. »Was gibt's, Thanatos?«
»Dieser Mann hier ist zur Zeit noch ein Sterblicher, doch er wird in einiger Zeit das Amt des
Mars einnehmen«, erklärte Tod. »Zumindest hat Chronos das gesagt. Doch im Moment sorgt der Mann
sich um sein Volk, das hier verhungert.«
Gäa betrachtete Mym. »Dann schickt es sich wohl für mich, ihn zu unterstützen. Ich könnte zum
Beispiel das örtliche Klima verbessern, so daß man eine reiche Ernte erwarten darf...«
»Bis dahin vergeht mindestens ein Vierteljahr«, sang der Prinz. »Und bis dahin werden die meisten
hier tot sein.«
Gäa, die Inkarnation der Erde und der Natur, dachte einen Moment nach. »Dann lasse ich Manna vom
Himmel regnen.«
Sie breitete die Arme aus, verwandelte sich in Nebel und Dunst zurück und war kurz darauf
verschwunden.
»Manna?« sang Mym und war jetzt noch verwirrter als zuvor.
»Gäas Wege sind mitunter recht sonderbar«, erklärte der Tod.
Ein Nebel senkte sich über den Boden und nahm Form an. Mym bückte sich und hob mit der
Fingerspitze ein wenig von der weißen Masse auf.
Er hielt den Finger an den Mund und probierte vorsichtig. »Das ist Manna?« fragte er.
»Wahrscheinlich kennt Eure Sagenwelt kein Manna«, vermutete Thanatos. »In der
christlich-jüdischen Mythologie kennt man Manna als nahrhafte Substanz, die vom Himmel regnet.
Ich schätze, es handelt sich dabei um sich rasch vermehrende Luftsporen oder etwas
Ähnliches.«
»Also ist Manna Nahrung«, keuchte Mym, als er verstand.
»Ich denke, Ihr seid Gäa jetzt einen Gefallen schuldig«, sagte Thanatos. Dann bestieg er seinen
Schimmel, berührte die Uhr und ritt hinauf in den Himmel.
Das Land und die Leute erwachten wieder zum Leben. »Laßt unsere Männer das Manna einsammeln«,
befahl der Prinz dem Minister.
Dieser sagte lieber gar nichts mehr, sondern machte sich daran, Männer abzukommandieren und neue
anzufordern, ohne darüber nachzudenken, was eigentlich vorgefallen sein mochte.
Auf diese Weise konnte eine sehr große Anzahl der Hungernden mit Nahrung versorgt werden. Das
Manna erschien jeden Tag von neuem, und bald wurden alle satt. Niemand verstand dieses Wunder,
bis auf Mym, doch der beschäftigte sich jetzt mit anderen Fragen. Er sollte zur Inkarnation des
Krieges werden? Ausgerechnet er? In dieser Angelegenheit hatte er noch das eine oder andere Wort
mitzureden. Außerdem hatte er jetzt als Normalsterblicher schon alle Hände voll zu tun.
Andererseits wirkte der Anblick der Hungernden und Sterbenden lange in ihm nach. Falls es
wirklich eine Möglichkeit gab, solches Leid ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen...
Die Zeit verstrich; keine weiteren Inkarnationen zeigten sich. Mym glaubte schon, seine Begegnung
mit Hungersnot, Tod, Zeit und Natur seien eine Halluzination und der plötzliche Überfluß an
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