Inkarnationen 04 - Das Schwert in meiner Hand - V3
hätte er da nein sagen
können? Andererseits hatte er sich allein damit schon dem Teufel verpflichtet. Wenn das Spiel so
weiterging, würde er eines Tages nicht mehr in der Lage sein, sein Amt ungehindert
auszuüben.
Er wanderte durch seinen leeren Palast, um sich abzulenken, doch er geriet nur noch mehr ins
Grübeln. Mym war als Prinz erzogen worden. Man hatte ihn in der Regierungs- und Amtsführung
unterwiesen. Daher war ihm bewußt, daß er sich jetzt auf trügerischem Grund bewegte. Er mußte
einen Ausweg finden, der es ihm ermöglichte, auf Satans Geschenke nicht mehr angewiesen zu sein
und so seine eigenen Vorstellungen und Werte nicht zu verraten. Im Grunde mußte er nicht jedes
Geschenk des Gottlosen ablehnen, er brauchte nur zu verhindern, sich damit in eine Abhängigkeit
zu begeben. Doch da der Teufel jederzeit die Annehmlichkeiten seines Gartens aufheben konnte,
würde Mym jede Unfreundlichkeit teuer zu stehen kommen.
Und wenn er dem Teufel einfach erklärte, er wünsche nicht länger von dessen Gaben beeinflußt zu
werden? Das wäre der ehrlichste Weg, und es war sicher wichtig, im Angesicht des Vaters der Lüge
mit Ehrlichkeit zu kontern. Jede Lüge hätte ihn weiter unter den Einfluß des Satans
gebracht...
Mym gelangte vor eine Kammer, die er nicht kannte. Er war so in Gedanken gewesen, daß er gar
nicht gemerkt hatte, wohin er gegangen war.
Er mußte wohl einen Turm bestiegen haben und stand nun vor einer verschlossenen Holztür.
Neugierig drückte er auf die Klinke, doch die Tür öffnete sich nicht. Mym war sich sicher, daß
vor ihm als Palastherrn keine Kammer verschlossen gehalten werden durfte; also mußte diese hier
versperrt sein, damit keine Besucher oder Bediensteten Zutritt erlangen konnten.
Er betrachtete die Tür. Ein großes Schloß war an einer Seite angebracht, aber ihm fehlte der
Schlüssel dazu.
Er umfaßte das rote Schwert. Sicher konnte er die Tür damit einschlagen. Ein solches Verhalten
aber hätte er als eine Art Niederlage empfunden. Und wenn er sich entstofflichte und als Geist
durch das Holz drang? Nein, auch damit würde er Schwäche beweisen.
Er dachte nach und hatte kurz darauf den rettenden Einfall. Er befahl dem Schwert, sich in den
passenden Schlüssel zu verwandeln.
Die Waffe glühte auf und verwandelte sich. Mym hielt einen großen Schlüssel in der Hand. Er
führte ihn ins Schloß und drehte ihn herum. Der Riegel schob sich ächzend zurück.
Der Prinz öffnete die Tür und betrat die Kammer.
Darin befand sich lediglich ein Tisch, auf dem ein Buch lag. Voller Neugierde betrachtete Mym das
Buch.
Die Seiten waren mit Schriftzeichen bedruckt, die offensichtlich chinesischen oder japanischen
Ursprungs waren. Jedenfalls konnte der Prinz sie nicht entziffern. Doch noch während er hinsah,
leuchteten die Buchstaben ähnlich dem Schwert auf und verwandelten sich in Zeichen, die Mym
kannte. Go Rin No Sho, stand dort jetzt zu lesen, aber der Prinz konnte immer noch nur
wenig damit anfangen.
Erneut leuchteten die Schriftzeichen auf, und jetzt las er: Fünf Ringe - eine Anleitung. Der Prinz kannte dieses Werk, denn er hatte es vor vielen Jahren gelesen. Es galt als
Standardwerk für Kendo, den Weg des Schwertes.
Überall auf der Welt wurde es von Militärtheoretikern und -historikern gelesen.
Anscheinend hatte Myms Vorgänger darauf nicht verzichten wollen. Er mußte oft darin geblättert
haben, denn etliche Seiten hatten Eselsohren; das Buch wirkte überhaupt ziemlich zerlesen.
Der Prinz schlug es irgendwo auf und las einen Abschnitt. Für eine vernünftige Strategie mußt
du den Blick schärfen. Lerne, auch zur Seite zu sehen, ohne die Augen zu bewegen.
Übe diese Sichtweise, sei es nun im Kampf oder im tagtäglichen Leben. Interessant. Mym hatte diese Passage vergessen.
Oder vielleicht hatte er ihr früher keine besondere Beachtung geschenkt. Diese Anleitung ließ
sich bildlich verstehen, aber auch wortwörtlich. Ein Krieger durfte seine Aufmerksamkeit nicht
vom Gegner wenden, indem er nach links und rechts sah. Er mußte aber wahrnehmen, was sich neben
und hinter ihm tat, um so vielleicht einen Feind auszumachen, der sich anschlich. Im übertragenen
Sinn mußte man auch komplexe Vorstellungen wahrnehmen und erkennen, ohne sie erst von allen
Seiten zu betrachten. Und man mußte Blendwerk durchschauen und gleichzeitig so tun, als würde man
sich auf etwas ganz Alltägliches konzentrieren. Ja, genau! schoß es Mym durch den Kopf. Das war
die
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