Insel der Rebellen
Vielleicht war der Streifen auf der Straße nur ein Vorwand, damit der Trooper sie besser ausspionieren konnte. Die Behörden schnüffelten ja überall herum, um herauszufinden, o b Leute wie Ginny auch Steuern zahlten für die Gewinne, die sie mit ihren unternehmerischen Initiativen erzielten.
Die Inselbewohner hatten über die Jahre gelernt, dass die Touristen beinahe alles kauften. Am beliebtesten waren Rezepte und Straßenkarten, die von Hand geschrieben oder gemalt und auf farbiges Papier fotokopiert waren.
Ginny trat jetzt an ihren Maschendrahtzaun, um einen genaueren Blick auf den Trooper zu werfen, der sich langsam auf der Straße vorarbeitete, bewaffnet mit einem breiten Pinsel und einem Eimer Spezialfarbe, die, soweit Ginny das Etikett entziffern konnte, versprach, wasserdicht und schnell trocknend zu sein und im Dunkeln zu leuchten. Der Trooper war ein junger und attraktiver Bursche, der sich mühsam im Krebsgang fortbewegte und offenbar wenig Freude an seiner Aufgabe hatte - was immerhin für ihn sprach.
»Däs därfscht nöd!« Ginny fand, dass die Straße nicht bemalt werden sollte. »Däs ghört si nöd!«, fügte sie mit dem höchst eigenartigen Dialekt hinzu, mit dem sich die Einwohner von Tangier verständigten, seit sie vor Jahrhunderten aus England ausgewandert waren und auf diesem Eiland ihre kleine, geschlossene Gemeinschaft erhalten hatten.
Andy wandte ihr seine dunklen Gläser zu und bemerkte auf den ersten Blick, dass sie das schlechteste Gebiss hatte, das er je gesehen hatte. Als er eben im What Not Shop eine Flasche Evian gekauft hatte, waren ihm zwei andere Inselbewohnerinnen aufgefallen, deren falsche Zähne ebenfalls miserabel waren.
»Gibt es auf der Insel keinen Zahnarzt?«, fragte Andy die alte Frau, die ihn misstrauisch durch den Maschendraht beäugte.
»Kummt jed Wuch vun dä feschte Land«, erwiderte si e zögernd, denn der Zahnarzt war ein heikles Thema auf der Insel, das lieber totgeschwiegen wurde.
»Kommt er schon lange?«, fragte Andy, der immer noch auf der Straße hockte, aber mit dem Malen innegehalten hatte.
»Jo. Allerwil dersälb, kummt nu scho so lang, wiss nöd, wie lang«, antwortete sie, jetzt eher unsicher als unfreundlich, und ihre Lippen fältelten sich wie Krepppapier um die großen falschen Zähne.
»Leider gibt's 'ne Menge schlechter Zahnärzte, Ma'am«, sagte Andy freundlich. »Es geht mich zwar nichts an, aber Sie sollten sich alle überlegen, ob Sie sich nicht einen neuen Zahnarzt suchen und ihren jetzigen verklagen.«
Seine Bemerkung und seine weißen, gesunden Zähne gingen ihr an den Geist - denn auf Tangier ging einem etwas an den Geist und nicht an die Nieren, wenn es einem einen Stich versetzte. Es war nicht so, dass die Inselbewohner sich untereinander nicht über den Zahnarzt beklagten, der vom Festland herüberkam. Aber ohne ihn hätten sie gar keinen gehabt.
»Ich nehme an, Sie haben Trooper Truth nicht gelesen«, bemerkte Andy, als er seine Arbeit am Streifen wieder aufnahm.
»Der hat etwas Interessantes über die Wahrheit gesagt -dass man ihr ins Gesicht sehen und sie fordern muss. Aber es führt nur ein Weg zur Wahrheit, Ma'am, man muss sich dem stellen, was einem Angst macht, egal, ob es nun eine Mumie ist oder ein gewissenloser, schlechter Zahnarzt.«
Dieser junge Trooper machte Ginny nervös. Sie hatte keine Ahnung, was sie von ihm und seiner freundlichen Art halten sollte, die so gar nicht zu seiner Achtung gebietenden Uniform und der Art und Weise passte, wie er die Straße vor ihrem Haus verunstaltete.
»Na, nu lenk nöd ab von dä Striff, dä du vor min eigen Aug pinselscht«, wechselte sie das Thema.
»Hab ich gar nicht vor«, sagte Andy. »Ich muss diese Raserfalle aufmalen - auf Anordnung des Gouverneurs, Ma'am.«
Das war Ginny neu, und sie war sofort hell empört. Auf der ganzen Insel gab es keine zwanzig Motorfahrzeuge, meist Pick-ups, die Transportzwecken dienten. Ansonsten gingen die meisten hier entweder zu Fuß oder waren mit Golfcarts, Motorrollern, Mopeds oder Fahrrädern unterwegs. Tangier war keine fünf Kilometer lang und etwas mehr als einen Kilometer breit. 650 Bewohner gab es insgesamt, was kümmerte es den Gouverneur da, ob einer mit seinem Golfcart mal ein bisschen über die Stränge schlug? Das Leben auf der Insel ging seinen gemächlichen Gang. Die Straßen waren kaum breiter als ein Fußweg, nur wenige waren gepflastert, und wer eine Kurve unterschätzte, landete kopfüber im Marschland. Raserei auf
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