Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
zuckte er leicht zusammen. Es amüsierte ihn ein wenig, als er einen Anflug von Unwillen über ihr Gesicht huschen sah.
»Guten Morgen.« Verdammt, sie wollte nichts weiter, als in Ruhe ihren Kaffee trinken, bevor sie sich an die Arbeit machte. Zum ersten Mal seit Wochen war sie erholt und konzentriert aufgewacht, und sie wollte ihre Energie nicht verschwenden.
»Schöner Morgen«, sagte Sam. »Für heute abend sind aber Gewitter gemeldet.«
»Hab’s gehört.« Sie öffnete den Küchenschrank.
Ein langes, umfassendes Schweigen machte sich zwischen ihnen breit. Als sich Jo ihren Kaffee eingoß, schien es so laut wie ein Wasserfall. Sam verlagerte sein Gewicht.
»Kate hat mir erzählt … sie hat’s mir erzählt.«
»Das habe ich mir schon gedacht.«
»Geht’s dir jetzt besser?«
»Ja, viel besser.«
»Die Polizei wird alles tun, was in ihrer Macht liegt.«
»Ja, alles, was in ihrer Macht liegt.«
»Ich habe über das Ganze nachgedacht. Du solltest die nächste Zeit hier auf der Insel bleiben. Bis die Sache nicht geklärt ist, solltest du nicht zurück nach Charlotte oder woandershin fahren.«
»Ich hatte schon geplant, mich die nächsten Wochen hier aufzuhalten und zu arbeiten.«
»Du solltest bleiben, bis die Sache vorbei ist, Jo Ellen.«
Jo war überrascht von seinem entschlossenen Ton, der seine Worte fast zu einem Befehl machte. »Ich wohne nicht hier. Ich wohne in Charlotte.«
»Du wirst nicht in Charlotte wohnen«, sagte Sam langsam, »bis diese Angelegenheit nicht geklärt ist.«
»Ich werde mir nicht von einem Verrückten mein Leben diktieren lassen. Wenn ich bereit bin, zurück nach Charlotte zu gehen, werde ich das tun.«
»Du verläßt Sanctuary nicht ohne mein Einverständnis.«
Diesmal klappte ihre Kinnlade herunter. »Wie bitte?«
»Du hast richtig gehört, Jo Ellen. Du hattest schon immer ausgezeichnete Ohren und einen wachen Verstand. Du wirst hierbleiben, bis die Situation sicher genug ist.«
»Und wenn ich morgen abreisen will …«
»Du bleibst«, unterbrach Sam sie. »Meine Entscheidung steht fest.«
»Deine Entscheidung steht fest?« Empört baute sich Jo vor ihm auf. »Du glaubst wohl nicht im Ernst, du könntest nach all den Jahren eine Entscheidung über mich fällen? Ich bin inzwischen siebenundzwanzig.«
»Und wirst im November achtundzwanzig«, erwiderte er gelassen. »Ich weiß, wie alt meine Kinder sind.«
»Und das macht dich zu einem guten Vater?«
»Nein.« Er sah sie ruhig an. »Aber dein Vater bin ich trotzdem. Bis jetzt bist du gut allein zurechtgekommen, aber die Zeiten haben sich geändert. Und deshalb bleibst du erst einmal hier bei uns, damit wir uns um dich kümmern können.«
»Ach wirklich?« Ihre Augen verengten sich. »Dann will ich dir mal erzählen, was ich auch in Zukunft allein machen werde!«
»Guten Morgen.« Lächelnd betrat Kate die Küche. Zwei Minuten lang hatte sie die Unterhaltung auf der anderen Seite der Tür verfolgt und dann entschieden, daß es Zeit zum Einschreiten war. Ihr gefiel es, daß zwischen den beiden ausnahmsweise mal weder Gleichgültigkeit noch Bitterkeit herrschte. Zorn war immerhin etwas Handfestes.
»Der Kaffee duftet wunderbar.«
Mit einer entschlossenen Bewegung stellte sie eine Tasse und die Kanne auf den Tisch und setzte sich neben Sam. »Setz dich wieder, Sam. Und du, Jo, hol deine Tasse zu uns. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir zum letzten Mal gemeinsam morgens in aller Ruhe Kaffee getrunken haben. Und nach dem Chaos gestern abend im Speisesaal haben wir uns das weiß Gott verdient.«
»Ich wollte gerade gehen«, sagte Jo kühl.
»Trink doch zuerst deinen Kaffee aus, mein Schatz. Brian wird uns schon früh genug verjagen. Du siehst aus, als hättest du gut geschlafen«, fügte Kate mit einem strahlenden Lächeln hinzu. »Dein Daddy und ich haben uns Sorgen gemacht, daß du nicht genug Schlaf bekommst.«
»Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.« Widerwillig trat Jo mit ihrer Tasse an den Tisch. »Wir haben alles getan, was zu tun war. Ich fühle mich schon so viel besser, daß ich demnächst zurück nach Charlotte gehen will.« Sie warf Sam einen herausfordernden Blick zu. »Ziemlich bald schon.«
»Wenn du möchtest, daß wir uns zu Tode ängstigen, Jo, bitte sehr.« Kate tat Zucker in ihren Kaffee.
»Ich verstehe nicht …«
»Natürlich verstehst du«, fiel ihr Kate ins Wort. »Du bist nur wütend, und zwar zu Recht. Aber du hast kein Recht, deine Wut an Menschen auszulassen, die
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