Insel der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Nicht nur die Grundlagen, sondern auch das richtige Sehen. Ich glaube, ich schulde ihm Dank für jede Fotografie, die ich gemacht habe.«
»Du bist eine professionelle Fotografin?«
»Jo ist sogar eine richtig bekannte Fotografin«, sagte Lexy bissig, als sie wieder in die Küche kam. »Die Globetrotterin J. E. Hathaway, die im Vorbeigehen die Leben der Menschen einfängt. Zwei Omeletts, Brian, zweimal Bratkartoffeln, einmal Schinken, einmal Wurst. Zimmer 201 ist beim Frühstück, Miss Weltreisende, du kannst die Betten machen.«
»Vorhang, bitte«, murmelte Jo, während Lexy schon wieder aus der Küche rauschte. Dann wandte sie sich Nathan zu. »Ja, ich verdanke es größtenteils David Delaney, daß ich Fotografin geworden bin. Hätte es Mr. Delaney nicht gegeben, wäre ich heute vielleicht so frustriert und von der Welt enttäuscht wie Lexy. Wie geht es deinem Vater?«
»Er ist tot«, antwortete Nathan knapp und erhob sich. »Ich muß jetzt gehen. Danke für das Frühstück, Brian.«
Schnell verließ er die Küche. Die Schwingtür pendelte noch ein paarmal nach.
»Tot? Bri?«
»Ein Unfall«, erklärte ihr Brian. »Vor ungefähr drei Monaten. Auch seine Mutter hat’s erwischt. Und einen Monat später hat er seinen Bruder verloren.«
»O Gott.« Jo fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Da bin ich ja ganz schön ins Fettnäpfchen getreten. Komme gleich wieder.«
Sie setzte den Becher ab und eilte hinaus, um Nathan noch einzuholen. »Nathan! Nathan, warte einen Augenblick.« Am Muschelkiesweg erreichte sie ihn. »Es tut mir leid.« Sie packte seinen Arm. »Es tut mir leid, daß ich so unsensibel war.«
Nathan riß sich zusammen. »Schon in Ordnung. Der Schmerz ist noch ziemlich frisch.«
»Hätte ich nur geahnt …« Unvermittelt hielt sie inne und zuckte hilflos die Achseln. Wahrscheinlich wäre sie in jedem Fall ins Fettnäpfchen getreten. Sie war im Umgang mit anderen schon immer etwas unbeholfen gewesen.
»Du konntest es ja nicht ahnen.« Nathan drückte ihre Hand, die noch immer auf seinem Arm lag. Sie sieht so unglücklich aus, dachte er. Und dabei hatte sie doch nur zufällig eine offene Wunde berührt. »Mach dir keine Sorgen mehr.«
»Ich wünschte, ich wäre mit ihm in Kontakt geblieben.« Ihre Stimme klang nun nachdenklich. »Ich wünschte, ich hätte ihm für alles danken können, was er für mich getan hat.«
»Vergiß es.« Er drehte sich jäh zu ihr um. »Wenn wir uns bei jemandem dafür bedanken, daß er unserem Leben eine Richtung gegeben hat, dann ist das so, als würden wir ihn dafür
verantwortlich machen. Dabei ist jeder für sich selbst verantwortlich.«
Sie trat einen Schritt zurück. »Stimmt schon, aber manche Menschen üben Einfluß darauf aus, welchen Weg man einschlägt.«
»Dann ist’s ja komisch, daß wir beide wieder hier gelandet sind, was?« Er blickte an ihr vorbei hinüber zu Sanctuary, dessen Fenster in der Sonne glänzten. »Warum bist du zurückgekommen, Jo?«
»Hier ist mein Zuhause.«
Er richtete den Blick wieder auf sie, auf ihre blassen, eingefallenen Wangen, die gequälten Augen. »Und hierher kommst du zurück, wenn du einsam, unglücklich und verletzt bist?«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust, als ob sie fröstelte. Sie, normalerweise selbst in der Beobachterrolle, war es nicht gewöhnt, so deutlich ins Visier genommen zu werden. »Ist eben so.«
»Offenbar haben wir beide fast im selben Augenblick beschlossen, hierherzukommen. Schicksal? Oder Glück?« Nathan lächelte leise, denn er hatte sich für das letztere entschieden.
»Zufall«, entgegnete Jo. »Und warum bist du zurückgekommen ?«
»Wenn ich das bloß wüßte.« Er stieß den Atem scharf zwischen den Zähnen durch, dann sah er sie wieder an. »Wo wir schon mal hier sind – begleitest du mich zu meinem Cottage?«
»Du kennst den Weg.«
»In Gesellschaft läuft sich’s aber besser.«
»Ich hab’ dir doch bereits gesagt, daß ich nicht interessiert bin.«
»Und ich sage dir, ich schon.« Lächelnd strich er ihr eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr. »Wäre lustig zu sehen, wer wen rüber auf die andere Seite stößt.«
Normalerweise flirteten die Männer nicht mit ihr. Jedenfalls war es ihr noch nie aufgefallen. Die Tatsache, daß er es tat – und sie es bemerkte –, irritierte sie. »Ich hab’ noch ’ne Menge Arbeit.«
»Stimmt. Betten abziehen in Zimmer 201. Bis später, Jo Ellen.«
Da er sich zuerst umdrehte, hatte sie die Gelegenheit, ihm nachzuschauen.
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