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Insel der Verlorenen Roman

Titel: Insel der Verlorenen Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCullough
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Schluchzen erschütterte sie. »Aber was soll ich tun? Er ist alles, was ich habe, alles, was ich jemals haben werde!«
    »Du hast mich.«
    Einen Augenblick lang schwieg sie. »Ja«, sagte sie schließlich, »ich habe dich. Aber das ist nicht dasselbe, Richard. Wenn William Henry etwas zustößt, es wäre mein Tod.«
    Draußen war es fast dunkel. Durch einen Riss in der Trennwand fiel ein dünner, grauer Lichtstrahl wie ein Spinnenfaden auf Richards Gesicht. Stumm saß er da und betrachtete seine Frau. Nein, dachte er, es ist nicht dasselbe.
     
    In Colstons Knabenschule hatten viele Söhne der etwas wohlhabenderen einfachen Leute von Bristol Lesen und Schreiben gelernt. Sie war keineswegs die einzige Einrichtung ihrer Art. Jede Konfession mit Ausnahme der römisch-katholischen hatte Schulen mit Freiplätzen, besonders die anglikanische Kirche. Nur zwei Schulen jedoch hatten eigene Uniformen. In Colstons Knabenschule trug man blaue Mäntel, die Roten Maiden hatten rote Kleider. Beide Schulen wurden von der anglikanischen Kirche betrieben, aber die Roten Maiden hatten weniger Glück. Sie lernten zwar lesen, aber nicht schreiben, und die meiste Zeit verbrachten sie damit, seidene Westen und Jacken für reiche Leute zu besticken, eine Arbeit, für die nur ihre Lehrerinnen bezahlt wurden. Die Schülerinnen gingen leer aus. In Bristol konnten mehr Männer lesen und rechnen als in jeder anderen englischen Stadt, sogar mehr als in London. Anderswo waren diese Kenntnisse eher ein Zeichen für Reichtum.

    Colstons hundert Schüler mit Freiplätzen lebten natürlich im Internat, ein Los, das auch Richard geteilt hatte. Er hatte seine Eltern während seiner Schul- und Lehrzeit vom siebten bis zum neunzehnten Lebensjahr nur an Sonntagen und in den Ferien gesehen. Für Peg wäre das erst recht unvorstellbar gewesen! Glücklicherweise konnte man in Colston auch noch anders lernen: Gegen eine saftige Gebühr durfte das Kind eines wohlhabenden Mannes die Schule von Montag bis Samstag von morgens um sieben bis nachmittags um zwei Uhr als Tagesschüler besuchen. Natürlich gab es auch lange Ferien. Kein Lehrer wollte mehr arbeiten, als es die anglikanische Kirche und das Testament des verstorbenen Mr Colston vorschrieben.
    William Henry machte sich am ersten Schulmorgen an der Seite seines Großvaters auf den Weg zur Schule. Mag hatte entschieden darauf gedrängt, dass Peg zu Hause blieb. Für William Henry öffnete sich mehr als nur ein Tor zur Schule und zum Lernen. Dies war der erste Tag eines neuen Lebens, und er kam fast um vor Neugier. Hätte er mit Richard in die Büchsenmacherei gehen und sich dort umsehen dürfen, die Sehnsucht wäre weniger stark gewesen. Die Gefängnismauern, die seine Mutter um ihn herum errichtet hatte, ragten freilich immer noch um ihn auf. Er hatte sein bisheriges Leben gründlich satt. Ein leidenschaftliches, impulsives Kind hätte sich heftiger gegen seine Mutter aufgelehnt, aber William Henry war so geduldig und beherrscht wie sein Vater. Seine Losung hieß: »Warte«. Jetzt war die Wartezeit endlich vorbei.
    Colstons Knabenschule lag jenseits des Froom in der Horse Street, gleich hinter dem St.-Augustin-Hafenbecken, und unterschied sich kaum von den zwei Dutzend anderen öffentlichen Gebäuden, die als Schule oder Armenhaus, Krankenhaus oder Arbeitshaus dienten. Das Haus war ungepflegt, mit schmutzigen Fensterscheiben, bröckelndem Verputz und schiefem Fachwerk. Feuchtigkeit durchdrang das ganze Gemäuer vom Fundament bis zu den Tudorschornsteinen. Die Räume waren nicht als Klassenzimmer geplant worden, und den Gestank des nahe gelegenen Froom ertrugen nur die abgehärteten Bristoler Nasen.
    Die Schule hatte ein Tor und einen Hof, auf dem es vor Schülern
wimmelte. Höchstens die Hälfte von ihnen trug den berühmten blauen Mantel. William Henry musste ihn wie die anderen Schulgeld zahlenden Tagesschüler nicht tragen. Einige Tagesschüler waren immerhin die Söhne von Ratsherren oder Kaufleuten, die nicht wollten, dass ihrem Nachwuchs der Makel der Armut anhaftete.
    Ein großer, spindeldürrer Mann im schwarzen Anzug und mit dem gestärkten weißen Kragen des geistlichen Standes kam Dick und William Henry entgegen. Er lächelte und entblößte dabei gelbliche, verfaulende Zähne.
    »Reverend Prichard«, sagte Dick und verbeugte sich.
    »Mister Morgan.« Die dunklen Augen wandten sich William Henry zu und weiteten sich. »Ist das Richards Sohn?«
    »Ja, das ist William Henry.«
    »Dann komm,

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