Insel der Verlorenen Roman
trockenem Mund betrat Richard die Schule, um seinen Sohn abzuholen. Was sollte er tun, wenn sein Sohn ihn unglücklich anflehte, nie wieder in diese Schule gehen zu müssen?
Seine Sorgen erwiesen sich als überflüssig. Er sah seinen Sohn übermütig über den Hof rennen, immer vor einem gleichaltrigen, flachsblonden und erschreckend mageren Jungen her, der ihn zu fangen versuchte.
»Papa!« Schon sprang William Henry an Richard hoch. Sein Spielkamerad blieb neben ihm stehen. »Papa, das ist Monkton der
Jüngere, aber wenn uns niemand hört, nenne ich ihn Johnny. Er ist Waise.«
»Wie geht’s, Monkton?«, fragte Richard. Die Erinnerung an seine eigene Schulzeit bei Colston kehrte zurück. Er war Morgan der Jüngere gewesen und erst nach seinem elften Geburtstag zu Morgan dem Älteren geworden. Und nur sein bester Freund hatte ihn Richard genannt. »Ich werde Reverend Prichard fragen, ob du nach dem Gottesdienst am Sonntag bei uns zu Mittag essen darfst.«
Richard machte sich mit William Henry auf den Heimweg. Der Junge war wie verwandelt. Er ging nicht ruhig an seiner Seite, sondern sprang und hüpfte und summte dabei eine Melodie.
»Offenbar gefällt dir die Schule«, sagte Richard lächelnd.
»Es ist prima dort, Papa! Ich kann rennen und darf auch laut sein.«
Richard stiegen Tränen in die Augen. Er zwinkerte sie weg. »Aber doch bestimmt nicht im Klassenzimmer.«
William Henry warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Papa, im Klassenzimmer bin ich ein Engel! Nicht einen Stockhieb habe ich bekommen. Viele Jungen bekommen dauernd Prügel, und einer wurde sogar ohnmächtig, weil er dreißig Schläge bekam. Das ist wirklich eine Menge. Aber ich weiß, was man tun muss, wenn man keine Prügel bekommen will.«
»Ja? Was denn?«
»Man muss den Mund halten und seine Schreib- und Rechenaufgaben ordentlich machen.«
»Stimmt, William Henry, jetzt fällt es mir auch wieder ein. Haben die großen Jungen euch drangsaliert, als ihr draußen spielen durftet?«
»Du meinst, als sie uns zwangen, uns nebeneinander im Klo aufzustellen?«
»Tun sie das immer noch?«
»Na ja, mit uns schon. Aber ich habe das große Stück Kacke, das mir Jones der Ältere auf die Hand machte, einfach an die Klowand geschmiert. Das meiste ging sowieso daneben. Und dann haben sie mich in Ruhe gelassen. Johnny sagt, sie schnappen sich
die Jungen, die heulen, und quälen sie immer weiter.« Wieder sprang William Henry ausgelassen hoch. »Ich habe mir die Finger am Mantel abgewischt. Siehst du?«
Richard betrachtete den braunen Streifen, der sich quer über den Schoß von William Henrys neuem Mantel zog. Er schluckte mehrmals krampfhaft und presste die Lippen aufeinander, um nicht laut herauszulachen. Nicht lachen, Richard, um Himmels willen, nicht lachen! »Ich an deiner Stelle würde Mama nichts von der Kacke erzählen«, sagte er, sobald er sich wieder unter Kontrolle hatte. »Ich würde ihr auch nicht zeigen, wo ich sie abgewischt habe. Ich frage Großmutter, ob sie den Flecken wegmacht.«
Mit seinem Sohn an der Hand betrat Richard das Cooper’s Arms. Nur sein Vater bemerkte seine triumphierende Miene. Peg riss den bis dahin so fügsamen William Henry mit einem Schrei an sich, um sein Gesicht mit Küssen zu bedecken, sie wurde jedoch zurückgestoßen.
»Lass das, Mama! Ich bin jetzt ein großer Junge! Es war ganz toll in der Schule, Opa! Ich bin zehnmal um den Schulhof gerannt, und dann bin ich hingefallen und habe mir das Knie aufgeschlagen. Auf meiner Schiefertafel habe ich eine ganze Zeile voller As geschrieben. Mr Simpson sagt, ich sei für mein Alter schon so weit, dass er mich bald in die nächste Klasse schickt. Er unterrichtet nämlich auch die nächste Klasse, im selben Zimmer. Mama, die anderen Jungen haben auch aufgeschlagene Knie! Das ist doch nicht schlimm!«
Richard verbrachte den Rest des Nachmittags damit, William Henry mit einigen Brettern einen eigenen Schlafplatz am anderen Ende des Zimmers abzutrennen. Der Junge schlief ohnehin bereits in einem Bett. Die Arbeit war beruhigend und lenkte Richard von der ständigen Unruhe im Erdgeschoss ab. Über die Treppe hörte er, wie William Henry jeden Neuankömmling mit einer zensierten Version seines ersten Schultags beglückte. Der Junge redete pausenlos - er, der sonst nie mehr als zwei zusammenhängende Worte sagte.
Richard hatte Mitleid mit Peg, doch zugleich musste er nüchtern feststellen, dass William Henry flügge geworden war. Niemals
mehr würde der Junge sich zu
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