Insel der Verlorenen Roman
mich darum beneiden wird! Nicht einmal er hat solche Stifte.«
Inzwischen wussten alle, dass Mr Parfrey bei William Henry in größtem Ansehen stand. Der Junge hatte ihn immer wieder in den höchsten Tönen gepriesen, seit Anfang Oktober der Lateinunterricht begonnen hatte. Offenbar verstand Mr Parfrey etwas vom Unterrichten. Er hatte William Henrys Interesse schon am ersten Tag geweckt und auch andere Kinder wie Johnny Monkton für sich begeistern können.
»Er darf deine Stifte bewundern, solange er sie dir nicht wegnimmt«, sagte Richard. Er drückte William Henry ein kleines Päckchen in die Hand. »Hier, das ist ein Geschenk für Johnny. Schade, dass die Internatsschüler am Weihnachtstag in der Schule bleiben müssen. Es wäre schön gewesen, ihn hier bei uns zu haben. Aber ein Geschenk soll er doch bekommen.«
»Da sind Bleistifte drin«, sagte William Henry sofort.
»Stimmt genau.«
Peg schloss William Henry in die Arme und drückte ihre Lippen auf seine hohe Stirn. William Henry ließ alles über sich ergehen, als ob er wüsste, dass er seiner Mutter so ein Geschenk machen konnte, und er küsste sie sogar zurück.
»Ist Papa nicht der allerbeste Vater?«, fragte er sie.
»Ja«, antwortete Peg. Vergebens wartete sie auf den Zusatz, dass sie die allerbeste Mutter sei. Noch vor einem Jahr hätte die Gleichgültigkeit ihres Sohnes, verbunden mit einer Bemerkung dieser Art, eine Welle des Hasses auf Richard in ihr aufsteigen lassen.
Aber Peg hatte inzwischen begriffen, dass Hass auf Richard nichts änderte. Es war besser, mit ihm auszukommen, nett zu ihm zu sein. Ihr Sohn verehrte ihn so sehr. Was konnte eine Frau auch anderes erwarten? Die beiden waren Männer.
Zu Beginn des neuen Jahres 1784 begab Richard sich in die Narrow Wine Street, um Mr Latimer in Wasboroughs Gießerei zu besuchen. Von der Straße aus sah man ein scheunenartiges Gebäude aus Kalksteinen, die vom Ruß der Kamine pechschwarz waren. An der Fassade befanden sich eine Reihe großer, hölzerner, schon ziemlich ramponierter Türen, die immer offen standen und zeigten, was drinnen vor sich ging, und aus denen Hitze und Lärm schlugen.
Doch merkwürdig, diesmal waren die Türen zu. Latimers arme Arbeiter mussten wirklich lange Urlaub machen. Seit Weihnachten hatten sie keinen Lohn mehr erhalten. Richard ging an den Türen entlang und probierte eine nach der anderen, doch alle waren abgesperrt. Vielleicht war hinten offen. Er nahm die Abkürzung durch eine enge Gasse, um auf die dem Froom zugewandte Seite des Gebäudes zu kommen. Dort fand er eine offene Tür. Stille empfing ihn, als er eintrat. Die Schmelzöfen waren kalt, die Herde leer, die Dampfmaschine stand stumm inmitten der Drehbänke.
Richard verließ das Gebäude wieder und ging zum Ufer des Froom, der Hochwasser führte und so kalt und grau wie der Himmel war.
»Richard! Ach Richard!«
Er wandte sich um und sah Vetter James, den Apotheker, händeringend aus der Gasse kommen.
»Dick sagte mir, du seist hier. Ach Richard, es ist furchtbar!«
Richard ahnte bereits, was passiert war, aber er fragte trotzdem. »Was ist denn so furchtbar, Vetter James?«
»Latimer! Er ist fort! Durchgebrannt mit all unserem Geld!«
Am Flussufer stand ein alter eichener Pfosten, an dem womöglich schon in römischer Zeit Schiffe vertäut worden waren. Richard lehnte sich dagegen und schloss die Augen. »Dann ist dieser Mann ein Narr. Er wird gefasst werden.«
Statt einer Antwort begann Vetter James leise zu weinen.
»Aber Vetter James, davon geht die Welt nicht unter.« Richard legte James den Arm um die Schulter und führte ihn zu einer verrosteten Eisenplatte, auf die sie sich setzen konnten. »Hör doch bitte auf zu weinen!«
»Ich kann nicht! Es ist meine Schuld! Hätte ich dich nicht ermutigt, dann hättest du dein Geld jetzt noch. Ich kann es mir leisten, für meine eigene Dummheit zu bezahlen, Richard, aber dass du all dein Geld verlierst, ist ungerecht.«
Richard empfand nichts außer der Sorge um den innig geliebten Menschen. Er starrte auf den Froom, ohne ihn wahrzunehmen. Der Tod der kleinen Mary hatte ihn ganz anders getroffen. Geld war etwas Äußerliches und sein Verlust nichts im Vergleich zum Tod eines Kindes.
»Ich entscheide selbst, was ich will, Vetter James, und du solltest mich gut genug kennen, um zu wissen, dass man mich nicht zu etwas überreden kann, das ich nicht will. Deshalb ist niemand schuld, am allerwenigsten du oder ich. Wisch dir die Tränen ab und
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