Insel der Verlorenen Roman
ist sie nicht sicher.«
So trennten sie sich. Willy und Annemarie kehrten in die Clifton Green Lane zurück, Richard schritt auf dem Weg über den Brandon Hill zügig aus und verschwand rasch in der Dunkelheit.
Am liebsten hätte Richard sich übergeben, aber sein Magen war leer. Er spürte den Rum auf einmal viel mehr als zuvor während der hitzigen Auseinandersetzung mit Ceely. Was für eine elende Geschichte! Und was sollte er seinem Vater sagen?
Am folgenden Tag, dem 30. September 1784, schrieb er Mr Thistlethwaite einen Brief.
Zumindest eines kann ich sagen: Das Feuer ist erloschen. Ich weiß nicht, was mich überkam, Jem, außer dass ich den Kerl nicht mag, den ich im Schlafzimmer vorfand. Ich kann nur mit bitteren Gefühlen an ihn denken. Und nicht nur das, ich besitze jetzt zwei Gegenstände, die mir weniger bedeuten als irgendetwas sonst auf dieser Welt: eine stählerne Uhr und einen Schuldschein über fünfhundert Pfund. Die Uhr gebe ich zurück, sobald ich Ceely Trevillians Anblick ertragen kann, den Schuldschein werde ich seiner Bank niemals zur Auszahlung
vorlegen. Wenn ich ihm die Uhr zurückgebe, werde ich sie vor seinen Augen zertrümmern. Und ich verfluche den Rum.
Vater hat jemand nach Clifton geschickt, um meine Sachen zu holen. Annemarie habe ich nicht wieder gesehen und werde sie auch niemals wieder sehen. Sie ist grundfalsch, von den Haaren auf ihrem Kopf bis zu den Haaren auf ihrem … ich sag’s nicht. Was für ein Narr bin ich doch gewesen! Und das mit sechsunddreißig Jahren. Mein Vater sagt, so etwas wie das mit Annemarie hätte ich mit einundzwanzig durchmachen sollen. Je älter der Narr, desto schlimmer, so hat er es auf seine übliche direkte Art ausgedrückt. Er ist trotzdem ein wundervoller Mensch.
In den letzten Tagen ist mir auch einiges über mich selbst klar geworden, von dem ich bisher keine Ahnung hatte. Am meisten schäme ich mich, dass ich meinen kleinen Sohn verraten habe. Von dem Augenblick an, in dem ich Annemarie kennen lernte, habe ich kein einziges Mal mehr an ihn und sein Schicksal gedacht. Erst als ich heute Morgen aufwachte, war Annemaries Bann über mich gebrochen. Vielleicht muss man das einmal erlebt haben. Aber was für eine Sünde habe ich begangen, dass Gott mich nach all den Schicksalsschlägen auf so schreckliche Weise prüfen muss?
Bitte schreib uns, Jem. Ich verstehe, wenn dir das nach der Nachricht über William Henry sehr schwer fällt, aber wir alle würden gerne von dir hören und machen uns Sorgen, weil du schweigst.
Doch selbst wenn James Thistlethwaite gleich geantwortet hätte, wäre sein Brief am 8. Oktober noch nicht im Cooper’s Arms gewesen. An diesem Tag betraten zwei ernst aussehende Männer in grau-braunen Anzügen das Wirtshaus.
»Richard Morgan?«, fragte einer von ihnen.
»Ja«, antwortete Richard und kam hinter dem Schanktisch hervor.
Der Mann trat näher und legte die rechte Hand auf Richards
linke Schulter. »Richard Morgan, Mr Ceely Trevillian hat gegen Sie Anklage erhoben. Ich verhafte Sie hiermit im Namen Seiner Majestät des Königs.«
»William Insell?«, fragte er dann.
»Oje, oje!«, quiekte Willy aus seiner Ecke.
Auch ihm legte der Mann die Hand auf die Schulter. »William Insell, ich verhafte auch Sie im Namen Seiner Majestät, König George. Bitte machen Sie keine Schwierigkeiten und kommen Sie mit. Draußen warten sechs weitere Polizisten.«
Richard stand da wie vom Donner gerührt. Er streckte die Hand nach seinem Vater aus und wollte etwas sagen, aber sein Kopf war völlig leer.
Der Beamte stieß Richard derb zwischen die Schultern. »Schweigen Sie, Morgan.« Er sah sich in der Gaststube um, in der plötzlich Totenstille herrschte. »Wenn jemand Morgan und Insell besuchen will, muss er ins Bristol Newgate kommen.«
TEIL ZWEI
Oktober 1784 bis Januar 1786
D as Bristol Newgate lag in der Narrow Wine Street, zwei Gebäude hinter der Wasborough-Messinggießerei. Die acht Polizisten nahmen Richard und Willy Insell in die Mitte und marschierten mit ihnen auf dem kürzesten Weg zum Gefängnis. Sie betraten es durch ein Tor aus dicken Eisenstäben, das an ein Fallgitter erinnerte. Drinnen sah Richard als Erstes einen engen Korridor mit einer Türöffnung auf jeder Seite. Der Anführer der Polizisten schob die beiden durch die linke Tür, die anderen halfen mit einem Stoß von hinten nach, blieben aber selbst draußen.
»Die Gefangenen Morgan und Insell!«, bellte er. »Bitte unterschreiben!«
An einem Tisch
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