Insel des Sturms
Überlegungen, die sie während ihres Spaziergangs gehegt hatte, und erzählte ihnen fröhlich, sie hätte gut geschlafen, genieße die herrliche Umgebung und freue sich auf neue Erfahrungen.
Sie war sich der Tatsache bewusst, dass sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter diese spontane Reise nach Irland als Experiment betrachteten, als eine plötzliche Fünfundvierzig-Grad-Abkehr von dem Weg, den sie so lange eifrig verfolgt hatte. Zu Judes großer Erleichterung waren sie nicht dagegen gewesen, sondern lediglich verblüfft. Wie hätte sie ihnen außerdem erklären sollen, was sie selbst nicht recht verstand?
Mit dem Gedanken an die Familie legte sie auf und wählte eine zweite Nummer. Oma Murray gegenüber musste sie nie etwas erklären. Sie verstand sie von allein. Mit etwas leichterem Herzen erzählte ihr Jude, während sie ihren Tee kochte und sich ein Brot machte, sämtliche Einzelheiten ihrer Reise, schilderte ihre Eindrücke und ihre Freude über das hinreißende Cottage.
»Eben habe ich einen Spaziergang gemacht.« Sie klemmte sich den Hörer in die Halsbeuge und stellte ihre einfache Mahlzeit auf den Tisch. »Die Ruine und den Turm der alten Kirche habe ich bisher nur von weitem gesehen. Irgendwann später gehe ich mal hin.«
»Es ist ein wunderbarer Ort«, erklärte ihre Oma, »mit so viel Atmosphäre!«
»Tja, die Inschriften und die Rundbögen möchte ich wirklich
gerne mal gründlich studieren, aber heute wollte ich nicht so weit gehen. Ich habe das Nachbarhaus gesehen. Anscheinend gehört es den O’Tooles.«
»Ah, Michael O’Toole. Ich erinnere mich noch an ihn, als er ein kleiner Junge war – er hat immer gern gelacht und einem so lange geschmeichelt, bis du ihn mit Tee und Plätzchen bewirtet hast. Er hat die tolle Mollie Logan geheiratet und sie haben fünf Töchter bekommen. Die, die du bereits kennen gelernt hast, Brenna, ist die Älteste. Wie geht es ihr, der wunderbaren Mollie?«
»Nun, ich bin nicht hingegangen. Sie hat gerade Wäsche aufgehängt, da wollte ich nicht stören.«
»Du wirst feststellen, dass in Irland nie jemand zu beschäftigt ist, um sich einen Augenblick Zeit zu nehmen, Jude Frances. Wenn du das nächste Mal durch die Gegend streifst und Mollie O’Toole siehst, gehst du hin und stellst dich ihr gefälligst vor.«
»Okay. Oh, und Oma?« Mit einem amüsierten Lächeln nippte sie an ihrem Tee. »Du hast mir gar nicht gesagt, dass es einen Geist in meinem Cottage gibt.«
»Und ob ich dich informiert habe, Mädel! Hast du denn meine Kassetten und meine ganzen Briefe noch nicht aufgemacht?«
»Nein, noch nicht.«
»Wenn du es tust, wirst du sicher denken, jetzt erzählt Oma wieder ihre alten Märchen. Aber geh trotzdem die Sachen einmal durch. Die Geschichte von Lady Gwen und ihrem Feengeliebten ist auf jeden Fall dabei!«
»Feengeliebten?«
»So wird es erzählt. Das Cottage steht auf einem Hügel oberhalb eines Feenpalastes, und immer noch wartet sie auf ihn und ergeht sich in ihrem Elend – weil sie durch ihre Vernunft und er durch seinen Stolz davon abgehalten wurde, das Glück zu ergreifen, als es sich ihnen bot.
»Das ist bitter«, murmelte Jude.
»Allerdings. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist der Hügel ein sehr geeigneter Ort, wenn man die Wünsche des eigenen Herzens erforschen will. Am besten horchst du dich also fleißig um, während du dort wohnst.«
»Im Augenblick sehne ich mich nur nach etwas Ruhe.«
»Gönn dir so viel Ruhe, wie du brauchst – die gibt es schließlich in Irland jede Menge. Aber begnüge dich nicht zu lange mit der Rolle der Beobachterin dessen, was auf der Welt geschieht. Das Leben ist kürzer als du denkst.«
»Warum kommst du nicht her und leistest mir Gesellschaft?«
»Oh, alles zu seiner Zeit – jetzt ist die Reihe zunächst einmal an dir. Nutz diese Chance! Du bist ein braves Mädchen, Jude, aber du brauchst nicht nur brav zu sein.«
»Das hast du schon immer zu mir gesagt. Vielleicht finde ich ja irgendeinen gut aussehenden irischen Herzensbrecher und fange ein leidenschaftliches Verhältnis mit ihm an.«
»Das wäre sicher nicht verkehrt. Leg bitte ein paar Blumen von mir auf Cousine Maudes Grab, ja? Und sag ihr, dass ich sie so bald wie möglich besuchen komme.«
»Das werde ich tun. Ich hab dich lieb, Oma.«
Verwundert stellte Jude fest, dass die Zeit im Flug verging. Sie hatte etwas Produktives tun wollen, hatte die Absicht gehabt, nur ein paar Minute lang hinauszugehen und sich am Anblick der
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