Insel des Sturms
Blumen zu erfreuen. Nur eine Hand voll zu pflücken und in die große blaue Flasche zu stellen, die sie im Wohnzimmer gefunden hatte. Natürlich hatte sie zu viele Blumen mit hereingeholt und brauchte einen zweiten Behälter. Eine normale Vase gab es anscheinend in dem Cottage nicht. Dann hatte es einen solchen Spaß gemacht, auf der Eingangstreppe zu sitzen, die Pracht zu arrangieren und sich zu wünschen, sie kenne die Namen der herrlichen Gewächse,
mit denen sie den Großteil des Vormittags vertrödelte.
Es war ein Fehler gewesen, die kleinere, gedrungene grüne Flasche mit in ihr Arbeitszimmer hinauf zu nehmen, um sie dort auf den Tisch neben den Computer zu stellen. Sie hatte sich nur ein, zwei Minuten hinlegen wollen; doch dann hatte sie zwei volle Stunden auf dem Sofa in ihrem provisorischen Büro geschlafen und schließlich verwirrt die Augen geöffnet.
Jude hatte jede Disziplin verloren. Sie war faul. Seit nunmehr über dreißig Stunden hatte sie nichts getan außer schlafen und sich verlustieren.
Und wieder war sie hungrig wie ein Wolf.
Wenn sie so weitermachte, dachte sie, während sie in der Küche nach einem Schnellprodukt suchte, dann wäre sie bereits in einer Woche fett, langsam und vollkommen verblödet.
Sie würde aus dem Haus gehen, ins Dorf fahren. Es galt eine Buchhandlung zu finden, die Bank und auch die Post. Sie wollte den Friedhof suchen sowie laut Auftrag ihrer Großmutter das Grab der alten Maude. Was sie bereits am Vormittag hätte tun sollen. Aber auch so würde der Auftrag noch heute erledigt und sie könnte den nächsten Tag damit verbringen, die Ansammlung von Kassetten und Briefen durchzugehen, die ihre Großmutter ihr mit auf den Weg gegeben hatte.
Erst jedoch zog sie sich um, denn in der schmal geschnittenen Hose, dem Rolli und dem eleganten Blazer fühlte sie sich wacher und professioneller als in dem dicken Pullover und den Jeans, in denen sie den ganzen Tag herumgelaufen war.
Dann attackierte sie ihr Haar – »attackieren« war die einzige Bezeichnung, mit der sich der Versuch beschreiben ließ, die wilde, wirre Mähne zu einem festen Pferdeschwanz zu
binden, obgleich sämtliche sich kräuselnden Strähnen auf Freiheit sannen.
Sie schminkte sich möglichst dezent. Noch nie hatte sie ein besonderes Geschick im Umgang mit Make-up gehabt, aber das Ergebnis reichte sicher für eine kurze Fahrt nach Ardmore. Ein Blick in den Spiegel sagte ihr, dass sie weder wie eine drei Tage alte Leiche noch wie eine Nutte wirkte – was beides als Ergebnis ihrer Versuche als Maskenbildnerin schon vorgekommen war.
Tief Luft holend ging sie hinaus, um abermals ihr Glück mit dem Mietwagen und den irischen Straßen zu versuchen. Sie saß bereits hinter dem Lenkrad und wollte gerade starten, als ihr klar wurde, dass sie die Schlüssel nicht dabei hatte.
»Tai Ginseng«, murmelte sie, als sie wieder aus dem Wagen kletterte. »Du solltest schleunigst anfangen, Tai Ginseng zu nehmen!«
Nach einer frustrierend langen Suche fand sie die Schlüssel auf dem Küchentisch. Ehe sie das Haus erneut verließ, knipste sie ein Licht an, denn vielleicht würde es dunkel, bevor sie wieder da wäre – und schloss sorgfältig die Haustür ab. Da sie sich nicht erinnern konnte, ob auch die Hintertür richtig zu war, marschierte sie fluchend um das Cottage, um das zu prüfen.
Im Westen ging bereits die Sonne unter, und durch ihr weiches Licht fiel leichter Nieselregen auf die Erde, als Jude endlich den Wagen langsam rückwärts auf die Straße rollen ließ.
Der Weg war kürzer als in ihrer Erinnerung und ohne die Wolkenbrüche vom Vortag, die gegen die Windschutzscheibe peitschten, richtiggehend malerisch. Bei den Hecken zu beiden Seiten der tatsächlich schmalen Fahrspur handelte es sich um leuchtende, blutrote Fuchsien, um Büsche mit winzigen weißen Blüten, von denen sie erfahren würde, dass es Schwarzdorn war, und um frühlingsgelbe Freesien.
Hinter einer Kurve entdeckte sie die verfallenen Mauern
und den hoch aufragenden Turm der Kathedrale auf dem Hügel, der den Zugang zum Dorf am Meer ehern bewachte.
Niemand war dort oben zu entdecken.
Seit achthundert Jahren stand die Kirche auf dem Berg. Das, so dachte Jude, war bereits ein Wunder. Über Kriege, fette Jahre und Hungersnöte, Blut, Tod und Geburt hinweg hatte sie ihre Macht erhalten, hatte sie sich einerseits für Gebete, andererseits als Zufluchtsstätte unzählige Male bewährt. Jude fragte sich, ob es stimmte, was ihre Großmutter
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