Insel des Sturms
die Zeichnungen in einen Hefter legte und alles zusammen in einen wattierten Umschlag schob.
Hiermit schickte sie ihr Herz über den Ozean, riskierte, dass eine beinahe Fremde es womöglich in den Papierkorb warf. Vielleicht sollte sie es ganz einfach sein lassen – Jude trat einen Schritt zurück, rieb sich die kalten Arme und starrte aus dem Fenster. Leichter, weiter so zu tun, als hätte sie die feste Absicht, es ein andermal zu wagen. Leichter, eine Kehrtwendung zu machen und sich davon zu überzeugen, dass das Ganze nichts weiter als ein angenehmes Hobby war, ein Experiment, bei dem es um nichts ging.
Hätte sie den Umschlag erst eingeworfen, gäbe es kein Zurück mehr, könnte sie nicht mehr so tun als ob – hätte sie keine Optionen mehr.
Das war es nämlich immer gewesen. Sie hatte sich darauf hinausgeredet, sie könnte etwas nicht – wäre weder clever noch schnell genug. Denn wenn man selbstbewusst genug war, etwas zu versuchen, brauchte man den Mut, auch der Gefahr einer Absage ins Auge zu blicken.
Sie hatte als Ehefrau versagt und am Ende als Dozentin – zwei Dinge, bei denen sie davon ausgegangen war, dass sie sich in etwa darauf verstand.
Aber es gab so viele andere Dinge, die sie gewollt, von denen sie geträumt und die sie dann verdrängt hatte. Stets hatte sie der Vernunft den Vorrang gegeben, weil man das von ihr erwartete.
Aber vor allem hatte sie, ganz tief in ihrem Inneren, gewusst, dass sie, falls etwas nicht klappte, damit würde leben müssen. Und hatte sich jedes Neuland versagt.
Sie blickte sich nochmals um und straffte ihre Schultern. Nun war ihr Mut erwacht. Nun könnte sie nicht mehr mit der Hoffnung leben, dass sie die Realisierung dieses Traumes ja immer noch vor sich hatte.
»Wünsch mir Glück«, murmelte sie dem ätherischen Wesen zu, mit dem sie das kleine Cottage teilte, und schnappte sich den Umschlag.
Im Moment wollte sie nicht weiter darüber nachdenken, als sie in den Ort fuhr. Sie würde den Umschlag einwerfen und ihn dann einfach vergessen. Es kam nicht in Frage, die nächsten Tage zu leiden, sich Sorgen zu machen wegen der Zukunft. Früh genug würde sie das Ergebnis erfahren, und falls ihre Arbeit den Ansprüchen dieser Agentin nicht genügte … würde sie sie irgendwie verbessern.
Während sie auf Hollys Antwort wartete, würde sie das Buch beenden. Sie würde es zurechtfeilen, bis es strahlte wie ein Diamant. Und dann, ja dann begänne sie den nächsten Band. Mit Geschichten, die sie selbst im Kopf hatte. Geschichten von Meerjungfrauen und Geistern und verzauberten
Flaschen. Sie hatte das Gefühl, dass die Geschichten nun, da sie die Flasche ihrer Fantasie endlich entkorkt hatte, schneller aus ihr herausströmten, als sie mit dem Tippen nachkam.
Als sie vor dem Postamt parkte, rauschte es in ihren Ohren. Ihr Herz klopfte so heftig, dass ihr die Brust schmerzte. Ihre Knie waren weich, aber sie zwang sich, über den Bürgersteig und hinein zu gehen.
Die Postmeisterin hatte schneeweiße Haare und die frischen Wangen eines jungen Mädchens. Sie bedachte Jude mit einem gut gelaunten Lächeln. »Hallo, Miss Murray. Wie geht es Ihnen so?«
»Sehr gut, danke.« Lügnerin, Lügnerin, Lügnerin, sang es in ihrem Kopf. Sicher verlöre sie jeden Augenblick den Kampf gegen die sich ständig verstärkende Übelkeit und würde sich hier, vor den Augen der Beamtin, übergeben.
»Ist ja auch ein wunderbarer Tag. Der schönste Sommer seit Jahren. Vielleicht haben ja Sie uns dieses Glück beschert.«
»Das würde ich mir gerne einbilden.« Mit einem Lächeln, das sich wie eine Grimasse anfühlte, legte Jude den Umschlag auf den Tresen.
»Dann schicken Sie also einer Freundin in Amerika ein Päckchen?«
»Ja.« Die Frau las die Adresse, und Jude behielt ihr Lächeln bei. »Einer alten Freundin vom College. Sie lebt inzwischen in New York.«
»Mein Enkel Dennis wohnt mit seiner Frau und seinen Kindern ebenfalls in New York City. Dennis arbeitet in einem eleganten Hotel und bekommt jede Menge Trinkgeld, wenn er den Leuten ihr Gepäck mit dem Fahrstuhl auf die Zimmer bringt. Er sagt, ein paar der Suiten sehen wie Paläste aus.«
Allmählich bekam Jude Angst, dass ihr Gesicht bersten
würde, trotzdem strahlte sie geduldig weiter. Sie hatte in den vergangenen drei Monaten die Erfahrung gemacht, dass man nicht einfach in ein Postamt oder irgendein anderes Haus in Ardmore stürmte, ohne sich mit den dort Anwesenden ein wenig zu unterhalten.
»Macht ihm die Arbeit auch
Weitere Kostenlose Bücher