Insel hinter dem Regenbogen (German Edition)
gedacht, aber Antworten auf ihre Fragen hatte sie nicht gefunden. In einem Moment sehnte sie sich danach, schon im Motel zu sein. Im nächsten Augenblick jedoch wünschte sie sich, Darshan wäre nie aufgetaucht. Denn dann hätten ihre Erinnerungen mit der Zeit verblassen können, bis Darshan nicht mehr als ein Gespenst gewesen wäre, das sie nur noch ab und zu heimsuchte.
Sie kam zu früh. Also stellte sie den Wagen auf dem Parkplatz des Motels ab, ging über die Straße, überquerte einen weiteren, kleineren Parkplatz und fand einen Weg zum Strand. Nachdenklich betrachtete sie den Sonnenuntergang, als sie eine vertraute Gestalt auf sich zukommen sah. Darshan war gerade nahe genug, damit sie ihn erkennen konnte. Er hatte die Beine seiner bequemen Hose fast bis zu den Knien aufgekrempelt und hielt seine Schuhe in einer Hand. Sein Baumwollhemd war weit aufgeknöpft. Seine Bewegungen wirkten selbstsicher, als wüsste er, wie anziehend er war. Mit lässiger Anmut warf er für einen kleinen Cockerspaniel ein Stöckchen.
Als der Hund weggerannt war, drehte Darshan sich um und ging weiter in ihre Richtung. Sie konnte den genauen Augenblick festmachen, als er ihre Anwesenheit am Strand bemerkte. Er blieb einen Moment lang stehen und hob die Hand, um seine Augen zu beschatten. Dann beschleunigte er seine Schritte und kam auf sie zu.
Janya ging ihm nicht entgegen. Ihr Haar und ihr Rock wehten im Wind, während sie im Sand stand und wartete. Doch sie musterte Darshan, verglich ihn mit Rishi und hasste sich dafür. Darshan bewegte sich, als würde er sich zur Schau stellen, als würde er erwarten, dass andere ihn beobachteten. Obwohl er sich, wie sie annahm, in einem leeren Raum vermutlich genauso bewegen würde. Er stolzierte nicht, tat nichts so Auffälliges, aber er schien die Welt zu umarmen, sie um sich zu sammeln, sodass er im Zentrum stand.
Rishi bewegte sich dagegen, als wäre es eine Notwendigkeit, als gäbe es zu viele Dinge, die er erledigen wollte, und als wäre die Zeit sein Feind. Rishi wäre überrascht, wenn er im Mittelpunkt stehen würde, und er würde sich unwohl fühlen. Darshan war der verhätschelte älteste Sohn gewesen, der Hoffnungsträger seiner Eltern. Rishi hingegen war der verwaiste Neffe und eine Belastung gewesen.
Doch wer hatte einen Grund, selbstsicher zu sein? Darshan hatte nichts geleistet, um sich sein hübsches Gesicht und den sportlichen Körper zu verdienen. Er war dazu bestimmt gewesen, Vorzüge und grenzenlose Liebe zu genießen. Und Rishi? Alles, was an ihrem Ehemann anziehend war, hatte er sich aus eigener Kraft erarbeitet. Es waren seine Tatkraft, sein schneller Verstand. Ja, er war mit einer gewissen Intelligenz gesegnet gewesen, aber seine Beobachtungsgabe und sein Lerneifer, seine Neugierde und sein Wille, Antworten zu finden – das waren die Dinge, die ihn so anziehend machten. Sie ließen seine Augen funkeln, sein begeistertes Lächeln strahlen. Und wie Alice bemerkt hatte, verliehen sie seinem Gesicht tatsächlich eine gewisse Persönlichkeit.
„Janya …“ Als er sie erreichte, ergriff Darshan ihre Hände und nahm ihren Anblick in sich auf. „Du hast keine Ahnung, wie oft ich mir das hier gewünscht habe.“
„Nein, das habe ich nicht.“
„Das lässt sich in Zahlen nicht ausdrücken.“
Dass er ihre Hände hielt, fühlte sich so vertraut an und das Gefühl, das sie durchströmte, ebenfalls. Monate der Sehnsucht hatten Darshan noch anziehender gemacht. Die abrupte Trennung hatte nur verstärkt, was sie während ihrer Verlobung für ihn empfunden hatte. Sie wurde von alten Empfindungen überflutet und konnte sie nicht von den neuen trennen.
Einen Moment lang standen sie einfach so voreinander. Die Wellen schwappten fast bis zu ihren Füßen, und Möwen flogen über sie hinweg. Sie wusste, dass er sie küssen wollte. Und sie wusste, dass er auf ein Zeichen von ihr wartete. Als sie ihn nicht länger ansehen konnte, richtete sie ihren Blick auf einige Pelikane, die in einer Reihe knapp über der Wasseroberfläche dahinschwebten.
„Wusstest du, dass ich am Strand sein würde?“, wollte er von ihr wissen. „Du kennst mich so gut, dass du es wahrscheinlich geahnt hast.“
„Nein, ich war ein bisschen zu früh. Und ein Spaziergang ist besser, als tatenlos zu warten.“
Er ließ ihre Hände los, doch sein Blick glitt noch immer über ihr Gesicht. „Ich habe vergessen, wie hübsch du wirklich bist. Ich träume fast jede Nacht von dir. Aber Träume werden dir nicht
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