Insel meines Herzens
hatte, und die Erschöpfung rötete seine Augen. Trotzdem kannte sie keinen Mann, der besser ausgesehen hätte. Wirklich – sehr ungerecht.
»In jenen Zeiten habe ich mich oft gefragt, ob mir die Ausbildung jemals nützen würde«, gestand er.
»Also hast du an ihrem Wert gezweifelt?«
»Oh, ich zweifle an vielen Dingen. Warum überrascht dich das?«
»Eigentlich dachte ich, du würdest die Traditionen in Ehren halten«, antwortete sie wahrheitsgemäß.
»Da du im Palast gelebt hast, musst du wissen, dass ich Veränderungen auf Akora anstrebe.«
Vorsicht, mahnte ihre innere Stimme. Nimm dich bloß in Acht... »Sicher, du möchtest verbesserte Waffen und ähnliche Dinge einführen. Sonst wäre Akora verletzlich. Aber im Lauf der Geschichte hat jeder Vanax ein Heer aufgestellt, das sein Inselreich erfolgreich gegen jeden erdenklichen Feind verteidigen konnte. Das ist nichts Neues.«
»Um Waffen allein geht es nicht. In einigen Ländern entsteht eine völlig neue Denkweise – vor allem in Großbritannien und Amerika. Allmählich erkennen die Menschen ihre Fähigkeit, viel mehr zu leisten, viel mehr anzustreben. Was schon immer so war, wie es ist, müssen sie nicht akzeptieren. Jetzt finden sie neue Lösungen für uralte Probleme. Und mit jedem Schritt, den sie unternehmen, wächst ihr Vertrauen in die eigenen Kräfte. Gewissermaßen bahnt sich eine weltweite Revolution an.«
»Das klingt beinahe so, als würdest du es billigen«, entgegnete Brianna. Erfolglos versuchte sie, ihre Überraschung zu verhehlen.
»Ich billige es nicht – und ich missbillige es nicht. Aber ich nehme die Realität und die Auswirkungen auf Akora zur Kenntnis. Einige Neuerungen sind gut, andere schlecht. So wie immer, wenn die Menschheit irgendetwas in Angriff nimmt. Jedenfalls werden wir mit Tatsachen konfrontiert, und darauf müssen wir uns einstellen.«
Vorsicht... Aber in ihrer Verwirrung konnte sie sich einfach nicht zurückhalten. »Nicht nur in der Bereitschaft, neue Wege zu gehen, gleichen sich die Briten und die Amerikaner. Da gibt es noch etwas...«
Viel zu eindringlich schaute er in ihre Augen. »Und das wäre?«
Zur Hölle mit der Vorsicht... Ohne Rücksicht auf Verluste sprach sie aus, was ihr auf der Seele brannte. »In diesen Ländern gestatten die Mächtigen ihren Völkern größere Freiheit – und einen Einblick in die Aktivitäten der Regierung.«
»Ja, das ist wahr«, stimmte er zu. Dann schränkte er ein: »Auf ihre begrenzte Weise. Akora ist viel offener.«
»Wie kannst du das sagen? Die Akoraner dürfen nicht einmal wählen.«
»Die meisten Engländer oder Amerikaner auch nicht. Nur ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung darf in politischen Fragen mitreden. Auf Akora ist das anders. Jeder kann in den Palast kommen. Und an manchen Tagen glaube ich tatsächlich, alle Einwohner sind da. Bei Versammlungen sprechen Männer und Frauen gleichermaßen. Wenn sie es wünschen, wenden sie sich direkt an mich. Hast du eine Ahnung, wie viele Stunden ich jeden Tag damit verbringe, die Briefe zu lesen, die mir ganz gewöhnliche Akoraner schicken – mit Vorschlägen, Kommentaren und politischen Anmerkungen? Oder wie oft ich mich mit solchen Leuten treffe? Letztes Jahr, vor meiner Verletzung, bin ich jeden dritten Tag zu verschiedenen Gebieten von Akora gesegelt, um zu hören, was mir die Menschen sagen wollten.«
Das alles hatte Brianna nicht gewusst, und es gab ihr zu denken. Trotzdem wandte sie ein: »Aber du musst die Ratschläge deiner Untertanen nicht befolgen. Du kannst tun, was immer du willst.«
»Was immer ich will?« Verblüfft schaute er sie an. »Glaubst du das allen Ernstes? Ich bin verpflichtet, so zu handeln, wie es für Akora gut und richtig ist. Dabei spielen meine eigenen Wünsche keine Rolle.«
»Und woher weißt du, wie du entscheiden musst, um Akora zu nützen?«
»Die Prozedur der Wahl habe ich nur überlebt, weil ich zu tun gedenke, was für Akora richtig ist – und weil ich das über alle anderen Erwägungen stelle.«
»Ach ja – der uralte, mysteriöse Ritus der Wahl, über den fast niemand Bescheid weiß! Dieses Thema müsste man endlich offen legen.«
»So einfach ist es nicht...«
»Du unterziehst dich einem Ritual, irgendetwas geschieht. Und wenn es vorbei ist, wirst du als Vanax anerkannt. Ist das wirklich so kompliziert, dass man nicht darüber sprechen dürfte?«
»In diesem Ritual verbirgt sich das Herz von Akora, und es betrifft den Glauben, der uns seit Jahrtausenden am
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