Insel meines Herzens
engstirnig noch despotisch. Stattdessen ist er bereit, allen Leuten zuzuhören und Alternativen zu erwägen, selbst wenn sie ihm missfallen.«
»Und dann tut er verdammt noch mal, was er will.«
»Da irrst du dich. Er hat mir versichert, das Wohl unseres Volkes würde stets vor seinen eigenen Wünschen stehen.«
»Um Himmels willen, Bri, natürlich behauptet er das! Wie Helios festgestellt hat, ist das nur ein Täuschungsmanöver, das die Akoraner ruhig halten soll, damit sie nicht verlangen, ihr Leben selbst zu bestimmen.«
»So dachten wir, das weiß ich. Aber wenn es nicht stimmt? Wenn er wirklich meint, was er sagt? Wenn er es Tag für Tag beweist, in allem, was er tut?«
»Bald wirst du verkünden, dieses absurde Theater der Vanax-Wahl sei gut und richtig.«
»Das habe ich früher abgelehnt«, gab sie zu und dachte an die Statue, an Atreus, seinen Anstand, seine Ehrlichkeit. »Nun bin ich mir nicht mehr so sicher.«
»Nie hätte ich vermutet, du würdest dich so leicht von unseren Prinzipien abbringen lassen. Leider bist du schwach – weil du den Verstand einer Frau hast.«
Unfähig, ihr Entsetzen zu verbergen, schüttelte sie den Kopf. »Wie kannst du so etwas sagen?«
»Ich will dir nicht wehtun«, beteuerte er und gehorchte dem traditionellen Gesetz, das es jedem Akoraner verbot, eine Frau zu verletzen. »Aber ich möchte dich belehren. Es ist allgemein bekannt, dass Frauen nicht logisch denken, sondern ihren Gefühlen vertrauen. Deshalb werden sie viel leichter als Männer in die Irre geführt.«
»Allgemein bekannt? Welch ein Unsinn! Wer hat dir das eingeredet?«
»Mir muss man nichts einreden. Wenn ein Mann Augen im Kopf hat, wenn er klar sehen und denken kann, zieht er solche Schlüsse von selbst.«
»Dann sollte sich dieser Mann die Augen reiben und die Nebel aus seinem Gehirn verscheuchen, bevor er einem falschen Weg folgt.«
»Solche Äußerungen stehen dir nicht zu.«
»Tatsächlich nicht?«
»Keiner Frau. Und ich empfehle dir zu bedenken, welchen Platz du im Leben einnimmst.«
Mit diesen Worten kehrte ihr der Bruder, den sie liebte und zu kennen glaubte, abrupt den Rücken und tauchte in der Menschenmenge unter.
Brianna starrte ihm verwirrt nach, bis jemand mit einem voll beladenen Tablett an ihr vorbeieilte und ihr ein Weinglas in die Hand drückte. Geistesabwesend nippte sie daran und seufzte erleichtert, als sie von einem neuen Feuerwerk abgelenkt wurde.
Irgendwann im Morgengrauen – so spät musste es schon sein, denn Brianna sah nur mehr wenige Sterne am Himmel – saß sie mit Leoni auf den Stufen des Palasts. Nur wenige Festgäste waren im Hof geblieben, ein paar hatten sich sogar am Boden ausgestreckt und schliefen. Marcus half einigen Männern, die Tische wegzuräumen. In einer Ecke sangen immer noch ein paar unermüdliche Zecher. Doch ansonsten war es viel ruhiger geworden.
Leoni, ihre stets praktische und fürsorgliche Mutter, hatte einen Krug mit dem allseits beliebten süßen Wein sichergestellt. Nun füllte sie zwei Gläser. »Welch eine wunderbare Feier! Genau das haben wir alle gebraucht.«
»Ja«, stimmte Brianna zu, »die Leute sind so glücklich.«
»Glücklicher als ich kann niemand sein.« Leoni beugte sich vor und tätschelte die Hand ihrer Tochter. »An manchen Tagen hatte ich Angst, du würdest nie mehr zurückkommen.«
»Oh Mutter...« Tränen schnürten Briannas Kehle zu.
»Bitte, hör zu weinen auf, Liebes. Das soll kein Vorwurf sein. Wärst du in England geblieben, würde ich im Grunde meines Herzens wissen, dass es gut und richtig für dich ist. Und doch – ich war so froh, als ich dich an Bord des königlichen Schiffes sah.«
»Wäre ich bloß früher zurückgekommen...«
»Den Zeitpunkt deiner Heimkehr hast du nach eigenem Gutdünken bestimmt. Und wenn du glaubst, du müsstest noch einmal wegfahren...«
»Was ich gesucht hatte, fand ich.«
»Tatsächlich?« Leonis Finger umschlossen Briannas Hand. »Deine Eltern...?«
»Ihr beide seid meine Eltern, Marcus und du«, versicherte Brianna leise. »Nur Eltern, die mich aufrichtig lieben, konnten meinen Wunsch verstehen, die Vergangenheit zu erforschen.«
Über Leonis Lippen drang ein schwacher Laut, halb ein Seufzen, halb ein Schluchzen. Eine Zeit lang schwieg sie, um sich zu fassen. »Selbstverständlich wolltest du wissen, wer du bist. So wie alle Menschen.«
»Ich heiße Lady Brianna Wilcox. Zumindest werde ich in England so genannt.«
»Das hast du erfahren? Erzähl mir, wie es dazu
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