Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
meine Hand in die seine.
»Was für einen seltsamen Kurs das Schicksal für uns vorgesehen hat, findet Ihr nicht? Schmerzlicher Verlust war die unwillkommene Strömung, die Euch in einen Hafen getragen hat, den Ihr gar nicht ansteuern wolltet. Doch liegt hier ja vielleicht auch das Schiff, das Euch an den Ort bringen wird, an dem Ihr schon immer vor Anker zu gehen gedachtet.«
Ich hatte aufmerksam in seine schwarzen Augen emporgeschaut, doch bei seinen letzten Worten wandte ich verlegen den Blick ab. Seine wohlformulierte kleine Ansprache hatte etwas Gedrechseltes, als hätte er sie sich vor unserem Zusammentreffen zurechtgelegt. Offenbar hatte er es eilig. Vielleicht zu eilig. Konnte denn ein Mensch wirklich nach nur so kurzer Bekanntschaft schon wissen, was er wollte, so wie er es gerade angedeutet hatte?
Auf dem kurzen Weg nach Hause und auch während ich den Tisch fürs Abendbrot deckte, wog ich diese Gedanken in meinem Herzen ab und versuchte, mir über meine eigenen Gefühle Klarheit zu verschaffen: über die tiefe Freude an unserem Gespräch, eine unleugbare Anziehung des Verstandes und das für mich so ungewohnte Gefühl, von jemandem auf ganz besondere Weise bewundert zu werden. Makepeace hatte so gerne darauf hingewiesen, dass Noah Merry für mich schwärme, und ganz gewiss hatte er meine Nähe gesucht und meine Gesellschaft genossen. Dennoch hatte ich von ihm nie etwas Derartiges gespürt wie die entschlossene Aufmerksamkeit, die Samuel Corlett mir zuteilwerden ließ. Die Zuwendung der beiden jungen Männer hatte einen vollkommen unterschiedlichen Charakter. Noah Merry war wie ein junger Hund, der voller Begeisterung einem freundlichen Menschen die Hand leckt. Samuel Corlett hingegen war mehr wie ein weiser alter Collie, der den Kopf auf die Pfoten legt und jede Bewegung seines Herrchens verfolgt.
So wie jener Collie setzte er denn auch sein Vorhaben in die Tat um. Während unsere Schüler am nächsten Morgen mit gebeugten Köpfen im Klassenzimmer über ihren Schiefertafeln hockten, hörte ich ein leises Klopfen an der Küchentür. Ich hob den Riegel, und da stand er, dunkel, groß und mit wallendem Talar, der ihm von den Schultern fiel wie einst der Umhang des Schwarzen Ritters aus dem Märchen. In den Armen trug er ein großes Bündel blühender Apfelzweige. Als ich die Tür öffnete, hob er einen der Zweige hoch, schüttelte ihn, und die Blütenblätter regneten auf mich herab, wobei sie einen herrlichen Duft verströmten − ein Vorbote des Frühlings. Als ich vor Freude auflachte, drückte er mir die Zweige in die Arme und zog dann aus den Falten seines Talars das Bradstreet-Bändchen hervor. »Das ist für Euch«, sagte er. »Mistress Bradstreet gehört einfach hierher zu Euch – zu einer Seelenverwandten ihres Geschlechts.«
»Aber das kann ich nicht … das ist zu viel …«
Er gebot mit erhobener Hand Schweigen und trat bereits von der Tür zurück. Dabei lächelte er sein schiefes, krummes Lächeln. »Mein Geschenk ist nicht vollkommen selbstlos. Ich hege die Hoffnung, dass das Büchlein schon bald wieder den Weg unter mein Dach findet.« Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz um und ging mit raschen, langen Schritten in Richtung College.
Ich schloss die Tür und lehnte mich dagegen. Anne saß mit dem Rücken zu mir am Tisch, den Blick gesenkt, und gab großes Interesse an Cicero vor. Doch als ich um den Tisch herumging, um die Apfelzweige in den Wassertrog zu stellen, sah ich, dass sie nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückte.
Sie musste etwas zu Caleb gesagt haben – mit dem sie, ebenso wie mit Joel, viel Zeit verbrachte. Der Master, der noch immer etwas dagegen hatte, dass sie mit den Jungen im selben Raum unterrichtet wurde, war damit einverstanden gewesen, dass die drei in einem kleinen Seminarraum zusammenkamen, um sich im Disputieren zu üben. Den ganzen Tag über spürte ich, wie Calebs fragender Blick auf mir ruhte. Ich sehnte mich danach, mit ihm zu sprechen. Er war der einzige Mensch, dem ich vielleicht offenbaren konnte, welcher Tumult in meinem Herzen herrschte, und von dem auch ein vernünftiger Ratschlag zu erwarten war. Doch genau das war unmöglich, denn es gab nicht einen Augenblick am Tag, an dem wir unter uns gewesen wären. Dann hörte ich jedoch, wie er den Master um Erlaubnis bat, ihr Seminar zu dritt im Freien abhalten zu dürfen, da das Wetter so schön sei. Er wies darauf hin, dass ihnen allen etwas frische Luft und Bewegung guttun würde, und dass sie
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