Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Inseln im Netz

Titel: Inseln im Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
Vom Netzwerk:
Wirbelsturm durch die Menge gegangen. Jetzt war er fort.
    Es hatte ungefähr eine Minute gedauert.
    Ein alter Sikh mit einem Turban auf dem Kopf hinkte vorbei. Aus seinem weißen Bart tropfte Blut.
    Unten auf dem Fußballplatz wogte und quirlte die Menschenmenge langsam durcheinander. Die Polizei sammelte sich da und dort, bildete Zusammenballungen von weißen Helmen. Sie versuchte die Leute zum Niedersitzen zu bewegen. Manche gehorchten, aber die meisten scheuten zurück, dumm und widerwillig, wie Vieh.
    Laura lutschte an ihren abgeschürften Fingerknöcheln und blickte verwundert umher.
    Es war alles zwecklos gewesen. Vernünftige, zivilisierte Menschen waren von ihren Sitzen aufgesprungen und hatten einander in panischer Flucht zu Tode getrampelt. Aus keinem vernünftigen Grund. Nun, da es vorbei war, versuchten sie nicht einmal, das Stadion zu verlassen. Einzelne kehrten sogar zu ihren Tribünensitzen zurück, mit leeren Gesichtern, unsicheren Bewegungen - den Ausdruck von belebten Toten.
    Ein Stück weiter hatte sich eine fette Frau in einem geblümten Sari vom Boden aufgerappelt und schlug mit ihrem breitkrempigen Strohhut schreiend auf ihren Mann ein.
    Laura fühlte eine Berührung an der Schulter und wandte den Kopf. Suvendra setzte sich neben sie, das Fernglas in der Hand. »Haben Sie es gut überstanden?«
    »Mama«, jammerte der kleine Junge. Er war ungefähr sechs, hatte eine goldene Kette mit Namensschild am Handgelenk und trug ein Sporthemd mit der aufgedruckten Büste des Sokrates.
    »Ich verkroch mich, wie Sie es taten«, sagte Laura. Sie räusperte sich. »Das war klug.«
    »Ich habe Ähnliches früher schon erlebt, in Djakarta«, sagte Suvendra.
    »Was ist überhaupt geschehen?«
    Suvendra klopfte an ihr Fernglas und zeigte zur Prominentenloge. »Ich habe Kim dort ausgemacht. Er lebt.«
    »Kim? Aber… aber wir sahen ihn sterben!«
    »Wir sahen einen schmutzigen Trick«, sagte Suvendra.
    »Was wir sahen, war nicht möglich. Selbst Kim Swee Lok kann nicht Feuer speien und explodieren.« Sie verzog säuerlich das Gesicht. »Sie wußten, daß er heute eine Rede halten würde. Sie hatten Zeit, sich darauf vorzubereiten. Die Terroristen.«
    Laura ballte die Fäuste. »Ach du lieber Gott.«
    Suvendra deutete mit einem Nicken zur Anzeigetafel. »Die Behörden haben die Übertragung eingestellt.
    Weil sie sabotiert worden war, vermute ich. Jemand schaltete die Leitung um und brachte einen Alptraum auf den Bildschirm. Um die Bevölkerung zu ängstigen.«
    »Aber wie erklären Sie dieses unheimliche, geisteskranke Geschwätz, das Kim von sich gab… Er sah aus, als hätte er den Verstand verloren oder stehe unter Drogen!« Laura strich dem Jungen geistesabwesend übers Haar. »Aber das muß auch manipuliert gewesen sein. Es war alles ein zurechtgemachtes Band, nicht wahr? Also ist Kim in Wahrheit gesund und munter?«
    »Nein, ich sah ihn. Sie trugen ihn… Ich fürchte, die Prominentenloge war mit einer Falle versehen, der Kim zum Opfer fiel.«
    »Sie meinen, alles das geschah wirklich? Kim redete tatsächlich irre?«
    »Einen Mann unter Drogen zu setzen, daß er sich lächerlich macht, und ihm dann scheinbar lebendig verbrennen zu lassen - das könnte einem Woduzauberer reizvoll erscheinen.« Suvendra stand auf und knüpfte die Bänder ihres Sonnenhutes unter dem Kinn zu einer Schleife.
    »Aber Kim sagte, er wolle Frieden mit Grenada!«
    »Kim zu verletzen, ist ein törichter Mißgriff. Wir hätten eine vernünftige Lösung finden können«, sagte Suvendra. »Aber schließlich sind wir keine Terroristen.« Sie öffnete die Handtasche und nahm eine Packung Zigaretten heraus.
    Eine Frau in zerrissener Seidenbluse hinkte den Tribünenaufgang herauf und rief nach jemandem namens Lee.
    »Sie können in der Öffentlichkeit nicht rauchen«, sagte Laura. »Das ist hier illegal.«
    »Richtig.« Suvendra lächelte. »Es ist besser, wir kümmern uns um diese armen Leute hier. Ich hoffe, Sie erinnern sich Ihrer Erste Hilfe-Ausbildung.«
    Laura lag auf ihrem Feldbett in der Rizome-Niederlassung und fühlte sich wie durch den Fleischwolf gedreht. Sie blickte auf ihre Uhr. Drei Uhr früh nach der Zeit von Singapur, Freitag, der 13. Oktober. Das Rechteck des Fensters leuchtete matt im bläulichen Schein der Bogenlampen über den Hafenkais der Ostlagune. Laderoboter auf dicken Reifen rollten unfehlbar durch Licht und Dunkelheit. Ein skeletthafter Kran tauchte in die Laderäume eines rumänischen Frachters und bewegte große

Weitere Kostenlose Bücher