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Inseln im Netz

Titel: Inseln im Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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Frachtcontainer wie Bauklötze.
    Am Fuß von Lauras Feldbett flimmerte ein Fernsehgerät mit abgeschaltetem Ton. Irgendein lokaler Nachrichtenmann, ein von der Regierung anerkannter Lakai wie alle Journalisten hier in Singapur… wie die Journalisten überall, wenn man es genau nahm. Er berichtete aus einem Krankenhaus…
    Wenn Laura die Augen schloß, konnte sie noch immer die unter zerrissenen Hemden mühsam atmenden Körper sehen und die behandschuhten, abtastenden Finger der Notärzte. Die Schreie waren am Schlimmsten gewesen, entnervender als der Anblick von Blut. Dieses nervenzermürbende Schmerzgeheul, die tierhaften Geräusche, die Menschen machten, wenn sie ihrer Würde beraubt waren…
    Elf Tote. Nur elf, ein Wunder. Bis zu diesem Tag hatte sie nie gewußt, wie zäh der menschliche Körper war, daß Fleisch und Blut wie Gummi waren, voll unerwarteter Elastizität. Frauen, kleine alte Damen, hatten zuunterst in den massiven, zappelnden Menschenhaufen gelegen und waren irgendwie lebendig wieder herausgekommen. Wie die kleine chinesische Großmutter, die ein paar gebrochene Rippen davongetragen, ihre Perücke verloren und sich bei Laura immer wieder mit entschuldigendem Nicken ihres kahlen kleinen Kopfes bedankt hatte, als ob die Panik allein ihre Schuld gewesen wäre.
    Laura konnte nicht schlafen. Schrecken und Erleichterung prickelten noch immer gedämpft in ihrem Nervensystem. Wieder waren die schwarzen Wasser ihrer Alpträume in ihr Leben eingebrochen. Aber sie wurde besser darin. Diesmal hatte sie tatsächlich jemanden gerettet. Sie hatte mitten im schlimmsten Ansturm den kleinen Geoffrey Yong gerettet, der im Bezirk Buki Timah wohnte, in die erste Klasse ging und Geigenunterricht nahm. Sie hatte ihn lebendig und ganz seiner Mutter zurückgegeben.
    »Ich habe selbst ein kleines Mädchen«, hatte Laura zu ihr gesagt. Und Frau Yong hatte ihr einen unvergeßlichen, erhebenden Blick grenzenloser und mystischer Dankbarkeit geschenkt. Der Edelmut des Schlachtfeldes, unter SchwesterSoldaten in der Armee der Mutterschaft.
    In Georgia war jetzt Mittagszeit. Sie könnte David wieder anrufen, in seinem Rizome-Schlupfwinkel in den Bergen. Es würde ihr gut tun, seine Stimme zu hören. Sie vermißten einander sehr, aber wenigstens gab es die Telefonverbindung, die ihr einen Blick in die Außenwelt öffnete und ihr sagte, daß sie ihre Sache gut machte. Darauf kam es an, denn es nahm ihr die drückende Last von der Seele. Sie verspürte ein tiefes Bedürfnis, über das, was geschehen war, mit einer vertrauten Person zu sprechen. Und das süße kleine Krähen des Babys zu hören. Und Vorbereitungen zu treffen, diese Stadt so bald wie möglich zu verlassen und dorthin zurückzukehren, wo sie ihre Wurzeln hatte.
    Sie machte Licht und wählte die Nummer auf ihrem Uhrtelefon. Nichts. Das verdammte Ding war defekt oder was. Im Gedränge beschädigt worden.
    Sie setzte sich im Bett auf und probierte einige Funktionen. Ihre Verabredungstermine waren noch abrufbereit, auch die Touristeninformationen, die man ihr beim Zoll gegeben hatte… Vielleicht war das Signal schlecht, der Empfang zu schwach, zuviel Stahl in den Wänden dieses Gebäudes. Sie hatte im Laufe der Jahre in manchen Behelfsquartieren geschlafen, aber dieses alte Geschäfts- und Lagerhaus ohne Klimaanlage und Wasseranschluß in den provisorischen Fremdenzimmern war selbst für Rizome-Verhältnisse ärmlich.
    Heftige Bewegung auf dem Bildschirm. Laura blickte zum Fernseher.
    Vier junge Burschen in weißer Karatekleidung - oder waren es griechische Tuniken? - waren über den Reporter hergefallen. Sie warfen ihn vor dem Krankenhaus aufs Pflaster und bearbeiteten ihn methodisch mit Fußstößen und Faustschlägen. Junge Kerle, vielleicht Studenten. Nase und Mund waren hinter gestreiften Halstüchern verborgen. Einer von ihnen wandte sich zur Kamera und machte mit der Hand hastig chinesische Schriftzeichen in die Luft, als wolle er protestieren.
    Die Szene blendete aus und zurück in ein Studio, wo eine Frau mittleren Alters bestürzt ihren Monitor anstarrte.
    Laura schaltete schnell den Ton ein. Die Frau im Studio griff zu einem Blatt Papier und begann chinesisch zu sprechen.
    »Verdammt!« Laura schaltete auf einen anderen Kanal um.
    Pressekonferenz. Ein Chinese in weißer Arztkleidung. Er hatte das unheimliche, irgendwie abstoßende Aussehen, das einigen älteren Singapurern eigentümlich schien - den reicheren. Ein pergamentenes Vampirgesicht, glatte, alterslose

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