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Inseln im Netz

Titel: Inseln im Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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steckten. Das Führungspersonal der Bank war in kleinen verschwörerhaften Gruppen über das Deck verteilt, und die Männer steckten die Köpfe zusammen und blickten über die Schulter. Es war eine überraschend große Zahl von hohen Tieren an Bord - anscheinend waren sie als erste ausgeflogen worden. Laura sah ihnen an, daß sie Direktoren waren, weil sie gut gekleidet waren und hochmütig aussahen. Und alt waren.
    Sie hatten jenes straffgespannte, altersfleckige Vampiraussehen, das die Frucht langjähriger Anwendung der pseudowissenschaftlichen chinesischen Langlebigkeitsbehandlungen war: Blutwäsche, Hormontherapie, Vitamin B, elektrische Akupunktur, pulverisierte tierische Substanzen und Gott allein wußte, was noch für unsinnige und sündteure Schwarzmarktartikel. Vielleicht hatten sie durch ihre kostenträchtige Kurpfuscherei ein paar zusätzliche Jahre herausgeholt, aber nun mußten sie auf einmal ohne ihre Behandlungen auskommen. Und das würde ihnen nicht leichtfallen.
    Als es dämmerte, traf ein großer ziviler Transporthubschrauber mit einer letzten Ladung Flüchtlinge ein. Laura stand bei einer der hohen, sanft zischenden Windsäulen, als die Flüchtlinge ausstiegen. Wieder waren Spitzenleute dabei. Einer von ihnen war Mr. Shaw.
    Laura zuckte erschrocken zusammen und zog sich zum Bug zurück, ohne sich umzusehen. Wenn dieses Schiff nach Abadan fuhr, mußte es eine besondere Regelung gegeben haben. Wahrscheinlich hatten Shaw und seine Leute sie längst für einen Fall, wie er nun eingetreten war, ausgearbeitet. Singapur mochte erledigt sein, aber die Datenpiraten hatten ihren eigenen Überlebensinstinkt. Für sie kamen keine billigen Naurus und Kiribatis in Frage - das war etwas für Dummköpfe. Sie gingen dorthin, wo das Ölgeld noch reichlich floß.
    Die Islamische Republik Iran war der Wiener Konvention nicht beigetreten.
    Laura bezweifelte jedoch, daß sie ungeschoren davonkommen würden. Singapur mochte versuchen, die Bankgangster und mit ihnen das Beweismaterial abzuschieben, aber zu viele Leute mußten Bescheid wissen. Ein Emigrantenschiff wie dieses mußte für jeden Reporter eine heiße Spur sein. Unter dem Deckmantel des Roten Kreuzes schwärmten wahrscheinlich schon Medienberichterstatter aus aller Welt nach Singapur, eifrige Pioniere einer weiteren waffenlosen, weltumspannenden Armee, die Mikrofone und Videokameras im Gepäck hatten. Sobald das Schiff internationale Gewässer erreichte, würden die Reporter nicht mehr lange auf sich warten lassen.
    Den Piraten würde es sicherlich nicht sehr gefallen - ihre Haut zog Blasen, wenn sie der Publizität ausgesetzt waren. Aber wenigstens waren sie den Grenadinern entkommen.
    Es schien eine unausgesprochene Überzeugung vorzuherrschen, daß die Grenadiner ihr Kriegsziel erreicht hätten und sich mit dem Erreichten begnügen würden. Daß ihr Terrorfeldzug jetzt, da die Bank zerstreut und die Regierung handlungsunfähig war, keinen Sinn mehr hatte.
    Vielleicht hatten sie recht. Vielleicht hatte erfolgreicher Terrorismus immer auf diese Weise gearbeitet - eine Regierung produziert, bis sie unter dem Gewicht ihrer eigenen Repression zusammengebrochen war. ›Babylon fällt‹ hatten sie geprahlt. Vielleicht würden Sticky und seine Freunde im Durcheinander der Revolte nun unbemerkt aus Singapur verschwinden.
    Wenn noch ein Funken Vernunft in ihnen war, würden sie die Gelegenheit wahrnehmen und wie sie die Heimreise antreten, stolz und triumphierend. Wahrscheinlich erstaunt, noch am Leben zu sein. Sie konnten zu Hause in ihrer karibischen Heimat als fleischgewordene Wodu-Legenden einherstolzieren, unvergleichliche Meister des Spukes.
    Laura wollte gern glauben, daß sie es tun würden. Sie wollte, daß ein Ende sei, konnte es kaum ertragen, an Stickys fieberhaftes Menü technischer Greueltaten zurückzudenken. Ein Schaudern überkam sie, eine Welle tiefer, unbestimmter Furcht. Für einen Augenblick kam ihr der Gedanke, daß sie womöglich vom bulgarischen ›Schrot‹ getroffen worden sei. Oder vielleicht hatte Sticky ihr eine Dosis verabfolgt, als sie bewußtlos gewesen war, und das Mittel begann jetzt erst zu wirken… Gott, welch ein schrecklicher Verdacht.
    Der Wiener Agent, den sie in Galveston kennengelernt hatte, kam ihr plötzlich in den Sinn: der höfliche, ansehnliche Russe, der von dem ›schlimmen Druck in einer Kugel‹ gesprochen hatte.
    Erst jetzt begriff sie, was der Mann gemeint hatte. Den Druck der Möglichkeit. Wenn etwas möglich war

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