Inseln im Netz
sind Brüder, David, die wir die wahre Arbeit der Welt tun - aber wo ist unsere Freiheit? Wo, eh?«
Andrej hielt inne, warf den Kopf zurück, um eine blonde Strähne aus der Stirn zu befördern. Plötzlich hatte er das dramatische Aussehen eines Redners, der Inspiration aus tiefen Brunnen der Aufrichtigkeit zieht. »Wir haben keine Freiheit! Wir können unseren Träumen, unseren Visionen nicht folgen. Regierungen und Konzerne zwingen uns unter ihr Joch! Für sie machen wir nur farbige Zahnpasta, weicheres Toilettenpapier, größere Fernsehgeräte, um die Massen zu verdummen und zu betäuben!« Er hieb mit den Händen durch die Luft. »Die heutige Welt ist eine Welt alter Männer, mit den Werten alter Männer! Mit weichen, angenehmen Polsterungen aller scharfer Ecken und Kanten, mit ständig bereitstehenden Krankenwagen. Das Leben ist mehr als das, David. Das Leben muß mehr als das sein!«
Die Schiffsoffiziere hatten aufgehört, ihm zuzuhören, und als Andrej eine Pause machte, nickten sie einander zu. Laura sah, wie sie feste Blicke männlicher Kameradschaft tauschten. Die Luft war beinahe dick von dieser ihrer demonstrierten Gemeinschaft, verstärkt durch die Parteilinie. Laura kam dies alles vertraut vor, wie das gute Gemeinschaftsgefühl bei einer Rizome-Versammlung, aber stärker hier, weniger nüchtern. Militant und beängstigend, weil es sich so gut anfühlte. Es verlockte sie.
Sie saß still, versuchte sich zu entspannen, durch ihre Augen zu sehen und zu verstehen. Andrej war nun, da er in Fahrt gekommen war, nicht mehr aufzuhalten, und predigte über die wahren Bedürfnisse des Volkes; die gesellschaftliche Rolle des engagierten Technikers. Es war ein Mischmasch: Nahrung und Freiheit und sinnvolle Arbeit. Und der Neue Mann und die Neue Frau, mit ihrem weiten Herzen für das Volk, den Blick aber zu den Sternen gerichtet… Laura beobachtete die anderen. Was mußten sie empfinden? Die meisten von ihnen waren jung, die engagierte Elite der Bewegung, aus den schläfrigen kleinen Ortschaften der Insel hierher verpflanzt: Sie stellte sich vor, wie sie die Eisentreppen ihrer seltsamen Stahlwelt hinauf- und hinunterliefen, schwitzend und eifrig wie gedopte Laborratten. Abgeschlossen gegen die Welt und weit entfernt von den Gesetzen und Regeln und Standards des Netzes.
Ja. So viele Veränderungen, so viele Schocks und Neuheiten; sie überwältigten die Leute. Geblendet vom Potential, sehnten sie sich danach, die Grenzen hinauszuschieben, sich über alle Regeln, Kontrollen und Gleichgewichte hinwegzusetzen, die nun alle diskreditiert waren, alles Lügen der alten Ordnung. Gewiß, dachte Laura. Das war der Grund, warum Grenadas Kader Gene wie Konfetti stanzen konnten, Daten für ihre Dossiers stehlen konnten, ohne Gewissensbisse zu bekommen. Wenn alle in eine Richtung marschieren, sind unangenehme Fragen nur störend.
Revolutionen. Neue Ordnungen. Für Laura hatten diese Begriffe den staubigen Geschmack des zwanzigsten Jahrhunderts und seines Denkens. Es war ein Jahrhundert visionärer Massenbewegungen gewesen, und wann immer sie zum Durchbruch gekommen waren, hatte das Ringen mit den alten Mächten Ströme von Blut fließen lassen. Was Rußland um 1920, Deutschland um 1940 und der Iran um 1980 durchgemacht hatten, mochte - in bescheidenerem Maßstab - Grenadas Schicksal sein.
Aber selbst ein kleiner Krieg konnte in einem kleinen Inselstaat wie Grenada das Klima vergiften, die Hysterie anheizen und jeden Abweichler zum Verräter stempeln. Ein kleiner Krieg, dachte sie, wie der, welcher bereits zu sieden beginnt…
Andrej war mit seiner Rede fertig. David lächelte unbehaglich. »Ich stelle fest, daß Sie diese Rede heute nicht zum ersten Mal gehalten haben.«
»Sie beurteilen Reden mit Skepsis«, sagte Andrej und warf seine Serviette auf den Tisch. »Das ist nur vernünftig. Aber wir können Ihnen die Tatsachen und die Praxis zeigen.« Er hielt inne. »Es sei denn, Sie möchten die Nachspeise abwarten.«
David blickte zu Laura und Carlotta. »Gehen wir«, sagte Laura. Gesüßtes Scop war nichts, was sie zum Verweilen einladen konnte.
Sie nickten der Tischrunde zu, bedankten sich höflich beim Kapitän, verließen die Tafel. Andrej führte sie durch einen anderen Gang und blieb vor einem Doppelaufzug stehen. Er drückte einen Knopf, und sie stiegen ein; die Türen schlossen sich hinter ihnen.
Störgeräusche zischten in Lauras Kopf. »Gott im Himmel!« sagte David, eine Hand am Ohrhörer. »Wir sind aus der
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