Inside Polizei
gab Messerstechereien, Schießereien und Tote auf den Straßen der Landeshauptstadt. Ein Albaner, der in einem Eiscafé von einem Kurden umgebracht wurde, war schon der dritte Tote in nur einem Jahr. Der heutige Bundespräsident und damalige niedersächsische CDU-Landeschef Christian Wulff nannte das Steintorviertel das »Eldorado der organisierten Kriminalität « .
Im Hannoveraner Polizeipräsidium schienen nach den mörderischen Revierkämpfen die Pragmatiker die Oberhand zu gewinnen. Sollte der polizeiliche Verfolgungs- und Ermittlungsdruck, besonders im Hinblick auf die deutsche Gruppe im Milieu, in den letzten Jahren zu groß gewesen sein? Hatte die konsequente polizeiliche Arbeit erst den Platz für ausländische Banden geschaffen, in dem sie die deutschen Wettbewerber ausschaltete und vor Gericht und in die Gefängnisse brachte? Trägt die Polizei mit diesem Vorgehen eine Mitschuld an dem grausamen Agieren der Migrantenclans, die sich gegen polizeiliche Ermittlungen erfolgreich abgeschottet hatten? Und wenn ja, wie sollte sie sich in Zukunft positionieren? Welche Gruppierung würde ihr Geld am leichtesten und mit der geringstmöglichen Gewaltanwendung kassieren?
Nach einem Jahrzehnt der Gewalt schien die oberste Etage der Behördenführung einen Entschluss getroffen zu haben: Die Polizei hielt sich ab sofort auffällig zurück, denn es zeigte sich, dass in den anhaltenden Revierkämpfen ein Akteur die Oberhand zu gewinnen begann, mit dem man sich im Hannoveraner Polizeipräsidium offensichtlich gut arrangieren konnte. Dies änderte sich auch nicht, als Frank H. und seine Männer am 12. November 1999 Mitglieder des weltweit mächtigsten Motorcycle-Clubs wurden, des Hells Angels MC. Unumwunden sprach man damals im Kommissariat Milieukriminalität über den Präsidenten Frank H. als einen »Ordnungsfaktor « im städtischen Steintorviertel.
Diese Einschätzung sollte sich Jahre später als schwerwiegender Fehler erweisen.
Mittlerweile hatte Frank H. das weltweit größte und mächtigste Hells Angels Charter in Hannover aufgebaut. Wie etliche seiner Kollegen verheimlichte Polizeikommissar Christian seine Sympathiegefühle für die deutschen Rocker auch im Dienst nicht besonders, außer wenn Vorgesetzte anwesend waren. Er konnte sich vorstellen, dass es sehr aufregend und interessant sein könnte, einmal mit Herrn H. ein Bier zu trinken und seinen Geschichten und Anekdoten zu lauschen, doch dazu würde es vermutlich nie kommen. Oder vielleicht doch?
Christian irrte sich. Nur sieben Tage und eine Nacht später standen sie sich gegenüber. Von Angesicht zu Angesicht, nachts im Hinterhof eines alten Industriegebietes, aber die Begegnung sollte anders verlaufen, als er es sich vorgestellt hatte.
Der Kommissar war kein typischer Polizist. Viele Abende verbrachte er am Boxsack eines angesagten Boxclubs in der Innenstadt. Die Männer, mit denen er seit Jahren trainierte, tauchten auf keiner Schwiegersohn-Wunschliste eines Polizeipräsidenten auf. Türsteher, Hooligans, Männer aus dem Milieu und einige normale Fitnesstreibende schwitzten und schunden ihre Körper hier Seite an Seite. Er liebte den Boxsport, und das harte, anspruchsvolle Training war sein Ausgleich, sein Ventil für den oft demoralisierenden Polizeijob. Und er würde lügen, wenn er sich nicht eingestehen würde, dass das Rotlichtgewerbe und seine dort arbeitenden Männer und ihre archaische Aura einen großen Reiz auf ihn ausübten. Einige der Jungs kannte er schon aus der Jugend, und jeder der Anwesenden wusste von seinem Job. Falls dies nicht der Fall war und sich ein Gespräch mit einem Neuankömmling anbahnte, wurde dieser diskret auf den Beruf seines Trainingspartners hingewiesen.
»Pass auf, was du erzählst, der ist ein Bulle!«, hallte es dann begleitet von einem breiten Grinsen im Gesicht durch die Halle.
Der Ton war rau, aber herzlich, einige hatten starke Ressentiments gegen seinen Job, anderen war es egal. Aufgrund etlicher Geschichten aus seiner Jugend duldeten selbst die mit Aversionen Behafteten seine Berufswahl und seine Trainingsteilnahme. Christian blickte auf eine wilde Jugendzeit zurück. Nachdem er seine boxerischen Fertigkeiten verbessert hatte, brannte er darauf, seine antrainierten Fähigkeiten anzuwenden. Aber nicht beruflich, wenn ihn Uniform und Dienstpistole schützten, sondern privat, nachts auf der Straße. So ließ er sich als junger Bursche in einige Schlägereien treiben, nichts Gravierendes, ein paar Kneipen- und
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