Inside Polizei
die Blockade, und Polizeieinheiten kämpften noch an anderen Fronten. Greenpeace war es gelungen, einen als Bierlaster getarnten Lkw auf die Transportstrecke zu bringen. Dort hatten sich zwei Aktivisten mit Armen und Beinen in einem Betonblock und den Lkw mit einer ähnlichen Vorrichtung im Straßenasphalt verankert. Diese Sperrung dauerte seit über zwölf Stunden an. Technischen Einheiten mit Bohrhämmern und schwerem Räumgerät gelang es erst um 0735, diese Lkw-Blockade zu entfernen. Die Finte mit der falschen Strecke war also offenbar fehlgeschlagen, die Einsatzleitung hatte sich verspekuliert. Es wäre wohl doch besser gewesen, die komplett gesicherte und abgesperrte Route zu befahren, aber jetzt war es zu spät.
Auch das kräftezehrende Schleppen und Tragen hatte irgendwann einmal ein Ende. Der letzte Aktivist wurde um 0750 eingehakt und fortgetragen. Dann konnte der Polizeiführer die Strecke endlich für die elf Tieflader freigeben. Die Wagen rollten ab 0835.
Marius’ Einheit und Tausende andere Polizisten sperrten immer noch eine Straße ab, die niemand befuhr außer einigen den Transport parallel begleitenden Einheiten. Um 0920 erfüllte das Dröhnen von Hubschraubern die Luft und kündigte die Durchfahrt des Atommülls durch Marius’ Einsatzabschnitt an. Diese Art der Luftabsicherung und den ohrenbetäubenden Lärm brachte Marius eher mit einer Dokumentation über den Vietnamkrieg in Verbindung als mit einem Polizeieinsatz, aber der Castor-Einsatz sprengte schließlich jeden normalen Rahmen.
Marius hatte sich die letzten Tage einen Blick auf eine Kommandoeinheit der GSG 9 erhofft, die ihm bei einem der letzten Einsätze im Wendland über den Weg gelaufen war. In Lüneburg sollten zwei Einheiten von Spezialeinsatzkommandos operieren, sie blieben aber für den Großteil der eingesetzten Polizeikräfte unsichtbar, ihre genaue Verwendung wurde gehütet wie ein Staatsgeheimnis. Jetzt glaubte er zu wissen, wo sie waren. Denn da oben in den Hubschraubern, direkt über den Castoren, wäre taktisch die beste Position für die begleitenden Elitepolizisten. So wäre einem Kommando der »Neuner« oder einem Spezialeinsatzkommando eines Landes der schnellste Zugriff bei einem schweren Zwischenfall möglich. Denn auch ein Terroranschlag auf den Atommülltransport gehörte zu den ausgearbeiteten Worst-Case-Szenarien der Einsatzleitung.
Terroranschlag. Dieses Wort war heute jedoch tabu, darauf achteten die Polizeiführung und die Pressekontaktbeamten penibel. Die Öffentlichkeit war durch Begriffe wie Atommüll, Strahlungsschäden, Langzeitfolgen und erhöhtes Krebsrisiko schon beunruhigt genug. Spekulationen über einen möglichen Anschlag waren da das Letzte, was man jetzt noch zusätzlich wollte. Doch so abwegig waren diese Gedankenspiele nicht. Mit etwas Vorstellungskraft konnte man einen Castor-Transport als den wichtigsten Bestandteil einer schmutzigen Bombe bezeichnen. Es gab zwar zahlreiche Sicherheitsprüfungen, die ein Castor-Behälter überstehen musste, z. B. einen Sturz aus neun Meter Höhe oder ein dreißigminütiges Feuer bei 800 Grad. Aber ein Anschlag mit einer Panzerfaust, den deutsche und amerikanische Behörden durchgespielt haben, zählt nicht zu dem Anforderungen, die ein Atombehälter bestehen muss. Die Ergebnisse der Tests waren erschreckend, schon eine relativ kleine Panzerfaust konnte ein Loch in die Castor-Hülle schlagen. Der Transportausschuss der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA teilte dazu auf Anfrage mit: »Kein Castor-Behälter ist dafür ausgelegt. Es gibt auch keine Vorschriften, weder von der internationalen Atomenergiebehörde noch abgeleitet aus nationalen Gesetzen.«
Ein solcher Anschlag würde bereits ausreichen, um einen Teil des Inhaltes verdampfen und Radioaktivität austreten zu lassen. Experten für ein geplantes Atommüllendlager im US-Bundesstaat Nevada wiesen ausdrücklich auf die Terrorgefahr hin und erörterten weitere schwerwiegende Szenarien.
»Es gibt realistische Umstände, unter denen die Folgen eines Anschlages schlimmer werden ... So könnte ein Selbstmordattentäter viel stärkere Sprengsätze benutzen.«
Auch ein Professor der Universität Duisburg, der Ingenieure unterrichtet, die Castor-Behälter bauen, warnte vor katastrophalen Szenarien:
»Da muss man Folgendes bedenken, dass, wenn eine Granate auftrifft, ja nur ein Teil des radioaktiven Inventares freigesetzt wird. Sollte aber ein Angriff mit vielen Granaten erfolgen, dann wird ja ein
Weitere Kostenlose Bücher