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Inside WikiLeaks

Titel: Inside WikiLeaks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Domscheit-Berg
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zunehmend auf die Nerven. Meine Energien für die Kunden aufzuwenden führte ja zu nichts – welchen Sinn sollte es haben, wenn bei Opel noch mehr Wagen vom Band rollten oder irgendein anderer meiner Kunden seine Absatzzahlen in die Höhe schraubte? Dadurch wurde die Welt nicht besser. Ich hatte immer das Gefühl, dass jemand mit bestimmten Qualifikationen auch die Verantwortung hatte, sie im Sinne der Gesellschaft einzusetzen. Jede Minute im Büro kam mir verschwendet vor. Ich konzentrierte mich einzig darauf, die Arbeit so effizient wie möglich zu gestalten. Das ist in einem großen Unternehmen, in dem die Projektphasen ohnehin sehr großzügig bemessen waren, problemlos möglich – zumal ich ohnehin schneller arbeitete als die meisten anderen.
    Ich beschäftigte mich nachts mit WikiLeaks und tagsüber mit den Anliegen meiner Kunden, und das immer häufiger von zu Hause aus. Manchmal weckte mich um elf Uhr das Telefon, ein wichtiger Kunde war in der Leitung – Telefonkonferenz, total vergessen. In Unterhose strauchelte ich, aus dem Tiefschlaf gerissen, über einen Packen geheimer Militärdokumente, der auf dem Boden ausgebreitet lag, und ließ mich in meinen Sitzsack nieder. Und dann erläuterte ich den Topmanagern von Weltkonzernen, während ich auf das Loch in meiner rechten Socke guckte, wie großartig wir ihre Rechenzentren optimieren würden. Danach widmete ich mich wieder den Dokumenten, den Geheimdienstpapieren und Korruptionsfällen, die als Nächstes auf die Seite sollten. Die Qualität meiner Arbeit blieb einwandfrei. Meine Eltern hatten mich zu einem pflichtbewussten Menschen erzogen – und das vergisst sich nicht so schnell.
    Mitte 2008 war ich für meinen Arbeitgeber vier Wochen lang in Moskau. Ich sollte dort den Aufbau eines Rechenzentrums in einem Bürogebäude durchführen. Vor Ort stellte sich dann heraus, dass das ganze Unterfangen aus dem Ruder gelaufen war.
    Ich wohnte ein bisschen außerhalb in einem Holiday Inn am Sokolniki-Park im Nordosten von Moskau und musste jeden Tag 45 Minuten mit der U-Bahn bis zu meinem Einsatzort fahren. Weil ich der einzige Nicht-Russe vor Ort war, also nur mir vertraut wurde, war ich bald Mädchen für alles. Der Kunde rief täglich bei mir an. Ich schuftete rund um die Uhr. Außerdem galt es Hardware im Wert von einer knappen Million Dollar gegen Dreck und Staub zu schützen. Entweder ein Arbeiter schmirgelte die Wände vor dem Serverraum oder die Klimaanlage leckte aus der Decke.
    Die Baustelle war ein Alptraum: Schutt und Müll versteckten die schlecht bezahlten Arbeiter einfach im Zwischenboden. Noch bevor sie fertig waren, gab es schon die ersten Lecks in den Heizungsrohren, weil alle achtlos darauf herumliefen. Weil ich von früh bis spät auf den Beinen war, hatten sich an meinen Füßen sogar Blutblasen gebildet. Ein Paar Doc Martens war nach Moskau komplett durchgelaufen. Die Stadt zerrte an meinen Nerven.
    Einmal gönnte ich mir ein Kontrastprogramm und besuchte meinen Austauschpartner, bei dem ich gewohnt hatte, als ich in der zwölften Klasse schon einmal in Russland gewesen bin. Wladimir* hatte Jura studiert. Wenn ich ihn fragte, was genau heute seine Aufgabe sei, sagte er: »Gefallen tun.« Er hatte vier Freundinnen, jeder hatte er ein Auto und eine Eigentumswohnung geschenkt. Und was mich am meisten beeindruckte: In seinem Auto lag ein Schreiben vom Polizeichef, in dem sinngemäß stand: »Diesen Mann bitte in Ruhe lassen.«
    Ich bin wirklich kein ängstlicher Beifahrer, aber wenn Wladimir* mit hundert Sachen auf eine Rechtsabbiegerspur zuraste oder gleich eine neue Spur für sich aufmachte, in der festen Überzeugung, dass alle anderen ihm Platz machen müssten und er vorm Verkehrsgericht ohnehin Recht bekäme, hielt ich mich doch an diesem Griff fest, der über dem Fenster angebracht ist.
    Aus meinem Bürofenster sah ich derweil auf mehrere Riesenbaustellen. Dort bauten moldawische Arbeiter gerade an neuen Rekorden. Links am höchsten Gebäude Europas und rechts am zweithöchsten Turm der Welt, wenn ich mich richtig erinnere. Die Arbeiter wohnten in kleinen Containerstädten, so etwas wie russische Townships, um die Stacheldraht gezogen war. Mehr als fünfzig Arbeiter waren seit Beginn der Bauarbeiten durch Unfälle gestorben.
    Es ist wirklich eine Schande, dass wir uns den Zuständen in diesem Land mit keinem Dokument zugewandt hatten, all die Jahre. Es traf einfach wenig Material aus Russland bei uns ein. Und wir konnten ja die Sprache

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