Inspector Alan Banks 01 Augen im Dunkeln
Korridore waren in halber Höhe verglast, so daß jeder im Vorbeigehen vollen Einblick in die Klassenzimmer hatte. Im Moment lagen alle Pulte verlassen da, und die Wandtafeln trugen noch die unentzifferbaren Züge krakeliger Kinderschriften. Auf den Schreibpulten prangten die eingeschnitzten Initialen irgendwelcher Freundinnen, die Namen berühmter Kricketspieler, Fußballer oder Rockbands, wie in den Tagen von Banks' eigener Schulzeit - nur die Namen hatten sich geändert. Über allem lag der vertraute Geruch nach Kaugummi, Kreide und dem Leder der Schulmappen.
Der Direktor saß in seinem holzgetäfelten Amtszimmer, schlürfte eine Tasse Tee und las in einer abgegriffenen Ausgabe von Ciceros Werken. Nachdem er Banks begrüßt hatte, sagte er mit einem traurigen Blick auf sein Buch: «Latein, Inspector. Welch eine elegante, edle Sprache! Das ideale Gerüst für ausgedehnte poetische Höhenflüge! Aber heutzutage scheint man dafür keine Verwendung mehr zu haben. Wie dem auch sei», seufzte er und erhob sich, «Sie sind sicher nicht gekommen, um sich meine Probleme anzuhören ...»
Sowohl der Mann als auch sein Buch schienen einst bessere Tage gekannt zu haben. Das Gesicht des Direktors wirkte verhärmt, sein Haar war von einem müden Grau, und seine Schultern hingen kraftlos nach vorn. Sein auffälligstes Merkmal war jedoch eine dicke rote Nase, und es bedurfte keiner allzu großen Phantasie, um sich vorstellen zu können, zu welchen Spitznamen die Schüler dadurch inspiriert wurden. Er trug einen fledermausartigen Umhang, nur das passende Barett schien zu fehlen. Das ganze Büro hatte eine so frappierende Ähnlichkeit mit der Höhle seines ehemaligen Schulleiters, daß Banks den gleichen Adrenalinanstieg verspürte wie in den Tagen, als er selbst noch vor dem großen Meister gestanden und auf den Rohrstock gewartet hatte.
«Nein, Sir», lächelte er und fiel wie von selbst in den gewohnten respektvollen Ton. «Ich bin hier, um Ihnen einige Fragen zu stellen über einen Ihrer Schüler.»
«Ach, du meine Güte! Er wird sich doch wohl hoffentlich nicht in Schwierigkeiten gebracht haben? Ich fürchte, es ist heutzutage nicht leicht, die Jungs im Auge zu behalten, und wir haben leider ein paar ziemlich zwielichtige Elemente an unserer Schule. Aber nehmen Sie doch Platz.»
«Danke, Sir. Wir wissen noch nichts Genaues», fuhr Banks fort, «vorläufig geht es nur um die eine oder andere Diskrepanz in einer Aussage, und wir wollten nur sehen, ob Sie uns vielleicht etwas über Trevor Sharp erzählen können.»
Buxtons Miene deutete nicht darauf hin, daß ihm der Name etwas sagte. Offensichtlich hatte er es schon seit langem aufgegeben, über seine Schülerschar zu wachen. Statt dessen stand er auf und ging zu einem Aktenschrank, aus dem er unter heftigem Murmeln und Zetern schließlich ein Bündel Papiere zutage förderte.
«Berichte», erklärte er und pochte mit seinem knochigen Finger auf die Dokumente. «Da sollte wohl drinstehen, was Sie wissen wollen. Es wäre mir allerdings ganz lieb, Inspector, wenn die Sache unter uns bliebe. Die Unterlagen sollen vertraulich behandelt werden ...»
«Selbstverständlich. Umgekehrt wäre ich gleichfalls dankbar, wenn Sie zu niemandem über diesen Besuch sprechen würden. Vor allem natürlich nicht zu dem Jungen selbst oder zu sonst jemandem, der ihm davon erzählen könnte.»
Der Direktor nickte und begann in der Akte zu blättern. «Dann wollen wir mal sehen ... 1983 ... nein ... Winterhalbjahr ... Sommer ... 1984 ... ausgezeichnet ... neunzig Prozent ... sehr gut.» In dieser Art ging es eine Zeitlang weiter, bis er sich wieder Banks zuwandte: «Ein intelligenter Knabe, dieser Master Sharp. Der Name scheint bestens zu ihm zu passen. Da, schauen Sie!» Er reichte Banks die Beurteilungen aus dem Vorjahr. Sie waren voller «Sehr gut» und anderen überdurchschnittlichen Noten in sämtlichen Fächern außer Geographie. Der Fachlehrer hatte dazu angemerkt: «Scheint sich nicht für die Materie zu interessieren. Zweifellos fähig, aber nicht gewillt, an der Sache zu arbeiten.»
Dieser einzige Schwachpunkt war offensichtlich nur ein Vorgeschmack auf die Berichte aus jüngster Zeit, die überwiegend mit Bemerkungen wie «Könnte besser sein», «Strengt sich nicht genügend an» und «Zeigt eine negative Haltung gegenüber dem Stoff» gespickt waren. Außerdem beklagten sich verschiedene Lehrer über seine häufigen Fehlzeiten. «Wenn Trevor
Weitere Kostenlose Bücher