Inspector Alan Banks 05 In blindem Zorn
den Rest seines oder ihres Lebens durch Eastvale oder meinetwegen auch durch irgendeinen anderen Ort läuft und >Oh, was für ein wundervoller Morgen< pfeift. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ist es Rache?«
»Vielleicht. Aber das glaube ich nicht. Es ist etwas Subtileres, eher Recht als bloße Rache.«
»Aber warum nehmen Sie es so persönlich?«
»Irgendjemand muss es tun. Caroline ist nicht mehr da, um es so persönlich zu nehmen.«
Veronica starrte Banks an. Ihre Augen verengten sich, dann schüttelte sie den Kopf.
»Was?«, fragte Banks.
»Nichts. Ich versuche nur, Sie zu verstehen, und denke, was für einen seltsamen Beruf Sie haben und was für ein seltsamer Mensch Sie sind. Stürzen sich alle Polizisten so in ihre Fälle?«
Banks zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Für manche ist es nur ein gewöhnlicher Job. Wie jeder andere drücken sie sich, so oft sie können. Manche werden unglaublich zynisch, manche sind faul, manche sind grausame, gemeine Arschlöcher mit Gehirnen von der Größe einer Erbse. Eben einfach Menschen.«
»Sie denken wahrscheinlich, mir ist die Rache oder die Gerechtigkeit oder was es auch ist, egal.«
»Nein. Ich glaube, Sie sind verwirrt und zu erschüttert wegen Carolines Tod, um darüber nachzudenken, wer es getan haben könnte. Außerdem sind Sie wahrscheinlich zu zivilisiert, um blutrünstige Rachegefühle zu hegen.«
»Verdrängung?«
»Vielleicht.«
»Dann ist ein bisschen Verdrängung vielleicht ganz gut. Das muss ich Ursula sagen, bevor sie das wilde Biest in mir herauslässt.«
Banks lächelte. »Ich hoffe, dass wir lange davor den Mörder hinter Gittern haben werden.«
Der Zug fuhr an einem Stück Brachland vorbei, auf dem leuchtend gelbe Ölfässer und alte Reifen herumlagen, dann an einem Fabrikhof, einer Wohnsiedlung und einem mit Graffiti verschmierten Bahndamm. Bald konnte Banks durch das Fenster Alexander Palace sehen.
»Machen Sie sich lieber fertig«, sagte er, stand auf und griff nach seinem Kamelhaarmantel. »In ein paar Minuten sind wir in King's Cross.«
* II
Eine halbe Stunde später schaute Banks über die Straße auf den gotischen Prunkbau von St. Pancras mit seinen Schornsteinen, Türmen mit Mauerkronen und Giebelzinnen. Da war er also nach fast drei Jahren zum ersten Mal wieder in London. Schwarze Taxen und rote Doppeldeckerbusse verstopften die Straßen und verpesteten sie mit Abgasen. Hupen dröhnten, die Fahrer schrien sich gegenseitig an und die Fußgänger setzten beim Überqueren der Straße ihr Leben aufs Spiel.
Veronica hatte ein Taxi genommen, um zu ihrer Freundin zu fahren. Banks' erster Schritt galt einem Mittagessen, was ein Pint und ein Sandwich bedeutete. Eine Weile spazierte er die Euston Road hinunter und nahm dabei die Atmosphäre auf, die er fast genauso sehr liebte wie hasste. Hier unten hatte es anscheinend nicht viel Schnee gegeben. Außer gelegentlichen grauen Matschklumpen in den Gossen waren die Straßen größtenteils frei. Der Himmel war jedoch bleiern, er rechnete noch vor Tagesende mit einem kalten Nieselregen.
Er bog in die Tottenham Court Road ein, fand einen gemütlichen Pub und erkämpfte sich einen Platz an der Theke. Es war Mittagszeit, deswegen war das Lokal mit hungrigen und durstigen Angestellten überfüllt, die über ihren Boss herziehen und für die dröge Nachmittagschicht auftanken wollten. Banks hatte ganz vergessen, wie sehr er die Londoner Pubs mochte. Die Menschen in Yorkshire waren so stolz auf ihr Bier und ihre Pubs, dass ihm erst jetzt wieder zu Bewusstsein kam, dass eine Londoner Kneipe genauso behaglich sein konnte wie jede andere oben im Norden. Banks trank ein Glas Guinness vom Fass und aß ein dickes Schinken-Käse-Sandwich. Wie immer musste man für eine solche Gaumenfreude in London ein Vermögen hinblättern; selbst das Pint kostete wesentlich mehr als in Eastvale. Glücklicherweise ging es auf Spesen.
Die lauten Stimmen mit ihrem Londoner Akzent überall um ihn herum brachten alles wieder zurück, das Gute wie das Schlechte. Jahrelang hatte er die Straßen der Stadt und ihre Energie geliebt. Selbst einige der Ganoven, die er geschnappt hatte, besaßen eine gewisse Klasse, und diejenigen, die keine Klasse hatten, besaßen wenigstens Sinn für Humor.
Er schob seinen Teller beiseite und zündete sich eine Zigarette an. Die hinter der Bar aufgereihten Flaschen spiegelten sich in einem Spiegel
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