Inspector Alan Banks 05 In blindem Zorn

vertragen. Aber Gary reagierte empfindlich. Das ist ja auch keine Sache, mit der man so einfach fertig werden kann. Gott, die meisten Menschen reden nicht mal darüber. Und Caroline hatte die Erinnerung daran jahrelang verdrängt. Aber sie war immer da, unter der Oberfläche. Wie ein Vulkan. Die Erde arbeitet die ganze Zeit im Untergrund und bricht plötzlich auf. Gary hat einfach emotional reagiert. Was sie sagte, hat ihn erschüttert, und mit einem Mal stand seine ganze Welt auf dem Kopf. Die ganze Zeit war seine Wut in die falsche Richtung gelenkt worden - auf sie.«
      »Hat er seinen Vater umgebracht?«
      »Er saß unten in seinem Zimmer und hat den alten Mann verhungern lassen.«
      Sandra erschauderte. »Großer Gott!«
      Sie hatte Recht, so entsetzt zu reagieren, fand Banks. Es war eine Tat von äußerster Grausamkeit, eine Tat, für die wohl jeder, der die Umstände nicht kannte, die Wiedereinführung der Todesstrafe fordern würde. Aber Garys Schmerz und Verwirrung konnte er trotzdem nicht vergessen; er konnte nicht anders als Mitleid mit dem Jungen haben, egal, welche Gräueltat er begangen hatte. Er gab Sandra das Wesentliche ihres Gesprächs wieder.
      »Ich kann verstehen, wenn er sagt, sein Vater hätte Caroline getötet«, sagte sie, »aber warum bezieht er sich selbst auch mit ein? Du hast gesagt, er hat es nicht getan.«
      »Aber er fühlt sich schuldig - schuldig, geboren zu sein, wenn man so will. Schließlich hat mit seiner Geburt alles begonnen. Seinetwegen war Caroline mit ihrem Vater allein gelassen worden. Er konnte uns den Mord nicht konkret beschreiben, weil er es nicht getan hat. Aber er fühlt sich dafür verantwortlich. Alles, was er sagen konnte, war, dass für ihn alles dunkel war. Dunkel und schmerzhaft.«
      »Das verstehe ich nicht«, erklärte Sandra stirnrunzelnd.
      »Ich glaube, er hat seine Geburt beschrieben«, meinte Banks. »Dunkel. Dunkel und schmerzhaft.«
      »Mein Gott. Und du hast gesagt, dass Caroline sogar einmal versucht hat, ihn zu ertränken?«
      »Ja. Er war ungefähr vier und sie zwölf. Er kann sich natürlich nicht mehr genau daran erinnern, und es lebt auch niemand mehr, der sagen kann, was wirklich passiert ist. Aber er glaubt, dass seine Mutter ihn für einen Augenblick allein gelassen hat, um ein paar frische Handtücher zu holen. Sie hat die Badezimmertür offen gelassen und Caroline kam herein. Er hat gesagt, dass er sich daran erinnert, wie sie an seinen Füßen gezogen hat und seinen Kopf unter Wasser tauchte. Dann weiß er nur noch, dass er wieder auf dem Arm seiner Mutter nach Luft rang und Caroline verschwunden war. Danach hat niemand mehr darüber gesprochen.«
      »Er muss schreckliche Angst vor ihr gehabt haben.«
      »Hatte er. Und er hatte keine Ahnung, warum sie ihn so behandelte. Sie übrigens auch nicht. Er zog sich in sich selbst zurück und unterdrückte alles.«
      »Ist er geisteskrank?«, fragte Sandra.
      »Das kann ich nicht beurteilen. Aber Hilfe braucht er auf jeden Fall. Stell dir nur mal vor, wie der in all diesen Jahren aufgestaute Hass übergekocht ist, weil er am Ende herausgefunden hat, wer das wahre Hassobjekt war. Er ist so lange gedemütigt worden. Da er spürte, dass er immer erst nach seiner Schwester kam, wurde sein eigenes Leben zerstört. Das einzige Wunder ist, dass er nicht früher etwas getan hat. Erst der Mord an Caroline und die Wahrheit über ihre Kindheit haben ihm ermöglicht, den Hass rauszulassen.«
      Banks musste an die gebeugte Gestalt des Jungen denken, der sich aus seinem Büro geschleppt hatte, nachdem er alles preisgegeben hatte. In Harrogate würde er jetzt unter Obhut stehen und musste vielleicht weniger verständnisvollen Vernehmungsbeamten die ganze Geschichte erneut erzählen. Schließlich durfte man nicht vergessen, was er getan hatte. Aber Gary Hartley würde nicht gehängt werden. Er würde nicht einmal ins Gefängnis gesteckt werden. Zuerst würde er sich sicherlich einer psychologischen Beurteilung unterziehen müssen, dann würde er vielleicht einen Großteil seines Lebens in psychiatrischen Einrichtungen verbringen. Was war besser? Das konnte Banks nicht sagen. Garys Leben war zerstört, genauso wie das seiner Schwester zerstört gewesen war, obwohl es Gary, anders als Caroline, nicht einmal gelungen war, ein paar glückliche Augenblicke zu ergattern.
      »Und wer hat dann Caroline Hartley ermordet?«, wollte Sandra wissen.
      Banks kratzte seinen Kopf.