Inspector Alan Banks 05 In blindem Zorn
den ersten Blick erfuhr er nichts Neues: Sie war geschlagen worden, wahrscheinlich ein Faustschlag auf die Wange, der sie bewusstlos gemacht haben könnte. Danach war brutal und wiederholt mit ihrem eigenen Küchenmesser auf sie eingestochen worden. Am Tatort wurde nur ihr eigenes Blut gefunden. Auf ihrem Morgenrock befanden sich keine Blutspuren, also war er vor der Attacke mit den Messerstichen entfernt worden oder Caroline hatte ihn selbst ausgezogen. Glendenning hatte keinerlei Anzeichen für Geschlechtsverkehr ausgemacht. Jedoch hatte er in mehreren Wunden Krümel der Schokoladentorte entdeckt, was ihn zu der Annahme führte, dass das Messer neben der Torte auf dem Tisch gelegen haben könnte. Wenn das stimmte, dachte Banks, dann hatten sie es wahrscheinlich mit einer spontanen Tat zu tun. Die in Reichweite liegende Waffe wurde im Zorn benutzt. Unter ihren Fingernägeln gab es keine Haut- oder Blutspuren, was bedeutete, dass sie keine Möglichkeit gehabt hatte, sich gegen ihren Angreifer zu wehren.
Und das war, neben den allgemeinen Informationen, alles. Banks las sie lustlos durch: einwandfreier Gesundheitszustand, Blinddarmnarbe, Entbindung eines Kindes ... Er hielt inne und las die letzten Worte noch einmal. Laut Glendenning, der so gründlich wie immer gearbeitet hatte, war der Gebärmutterhals multipar geöffnet. Das hieß, dass die Verstorbene zu irgendeinem Zeitpunkt ein Baby geboren hatte.
Das warf ein interessantes, neues Licht auf die Dinge. Es bedeutete nicht nur, dass sie wenigstens eine heterosexuelle Beziehung gehabt haben musste, es konnte auch erklären, warum sie nach London gegangen oder was ihr dort passiert war. Deshalb war es umso nötiger, genau herauszufinden, wo sie gelebt und was sie getan hatte. Banks hatte das Gefühl, dass das Foto ein Anhaltspunkt war. Da es neben der gepressten Blume das einzige Andenken war, das sie aufbewahrt hatte, war Ruth ganz offensichtlich ein sehr wichtiger Mensch in Carolines Vergangenheit.
Banks ging zum Fenster und schaute hinaus auf den Marktplatz. Er sah aus wie eine winterliche Szene von Brueghel. Die Lichter des Weihnachtsbaumes brannten und über das verschneite Kopfsteinpflaster eilten Passanten mit vollen Einkaufstaschen. Banks war froh, dass er seine Weihnachtseinkäufe bereits vor einer Woche erledigt hatte. Es fehlten nur noch die Getränke. Die würde er morgen einkaufen: eine Flasche Port, einen guten, trockenen Sherry und vielleicht eine Flasche Ciardhu Single-Malt-Whiskey, wenn das Geld noch dafür reichte. Dann wanderten seine Gedanken zurück zu Caroline Hartley. Ein Baby. Was für eine unglaubliche Entdeckung! Und wenn es ein Baby gab, dann musste es auch irgendwo einen Vater geben. Vielleicht einen grollenden Vater.
Neugierig, ob es schon Fortschritte bei der Untersuchung der Schallplatte und des Geschenkpapiers gegeben hatte, rief er das gerichtsmedizinische Labor an und fragte nach Vic Manson.
Manson war etwas außer Atem, als er ans Telefon kam. »Was ist? Ich habe gerade meinen Mantel angezogen. Ich bin auf dem Sprung.«
Banks musste unwillkürlich lächeln und zündete sich eine Zigarette an. Manson war immer auf dem Sprung. »Tut mir Leid, Vic. Ich halte Sie bestimmt nicht lange auf. Ich wollte nur wissen, ob Sie zum Hartley-Fall schon was für uns haben. «
Manson seufzte. »Nicht viel. Keine Abdrücke, die wir nicht zuordnen könnten. Das Messer wurde abgewischt, aber zwischen Klinge und Griff haben wir Blutspuren und Krümel gefunden.«
»Was ist mit der Platte?«
»Nichts. Normalerweise fasst man eine Schallplatte ja auch an der Außenseite an. Da ist kein Platz für Abdrücke. Cover und Innencover waren auch sauber.«
»Und sonst?«
»Die Platte sah neu aus. Soweit ich das beurteilen kann, war sie in tadellosem Zustand und wurde nur ein paarmal abgespielt.«
»Wie oft?«
»Kann ich nicht genau sagen, höchstens zwei- oder dreimal. Aber sie war mit Sicherheit neu.«
»Und das Geschenkpapier?«
»Gewöhnliches Weihnachtsgeschenkpapier. Könnte überall herstammen. Doch es sieht so aus, als wenn die Platte damit eingepackt war. Passt haargenau. Aber leider hängt kein Schildchen mit dem Namen des Mörders dran.«
»Na ja, besser als nichts. Danke, Vic. Sagen Sie, können Sie mir die Platte rüberschicken, sobald Sie damit fertig sind?«
»Natürlich. Reicht es bis morgen?«
»Ja, durchaus. Dann will ich Sie nicht länger aufhalten.
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