Inspector Alan Banks 05 In blindem Zorn
Außerdem konnte er die Zeugnisse dessen sehen, was Gary Hartley mit dem Raum angestellt hatte: die mit Dartlöchern gespickte und mit obszönen Graffiti voll geschmierte Holzvertäfelung.
Richmond sah fassungslos aus. Mit einer Hand in der Manteltasche und der anderen an der rechten Seite seines Schnurrbartes stand er vor der Tür und schaute sich mit großen Augen um. Das Zimmer war abgedunkelt und nur von einer Stehlampe neben dem ramponierten grünen Samtsofa erleuchtet, in dem Gary Hartley rauchend lag und seine Besucher bewusst nicht anschaute. In einem kleinen Farbfernseher auf einem Tisch vor dem zugezogenen Fenster liefen mit leise gestelltem Ton die Nachrichten. Wie ein Spalier Soldaten standen vor dem Steinkamin leere Bierdosen und Weinflaschen aufgereiht. An manchen Stellen war der Teppich derart ausgetreten, dass nur noch die überkreuzten Fäden vorhanden waren, um die nackten Bodenbretter zu bedecken. Das Zimmer roch nach abgestandenem Rauch, Bier und ungewaschenen Socken.
Das Haus muss früher einmal schön gewesen sein, dachte Banks, allerdings hatten sich eine solche Schönheit nur wenige leisten können. Im letzten Jahrhundert zahlten für jede Familie, die das bequeme Leben in einer eleganten Yorkshire-Villa wie dieser genossen, tausend andere, dazu verdammt, in überfüllten Bruchbuden zu hungern, die dicht an die Fabriken gebaut waren, wo sie sich Tag für Tag schindeten.
Banks nahm einen abgewetzten, harten Stuhl, von dem er eine zerrissene Jeans schob, bevor er sich hinsetzte. Ohne seine Handschuhe auszuziehen, zündete er sich schwerfällig eine Zigarette an. »Welchen Beruf hat Ihr Vater ausgeübt?«, fragte er Gary.
»Er hatte eine Druckerei.«
»Also fehlt es Ihnen nicht an Geld?«
Gary lachte und schwenkte seinen Arm in einem alles umfassenden Bogen. »Wie Sie sehen können, schwindet das Vermögen, verfallen die Reichtümer.«
Wo hat er solche Ausdrücke her?, fragte sich Banks. Er hatte sich wohl bereits über die Reste der alten Bibliothek in den deckenhohen Regalen neben dem leeren Kamin hergemacht. Cervantes, Shakespeare, Tolstoi, Dickens - allesamt in schönen, handgemachten Ledereinbänden. Jetzt sah er ein aufgeschlagenes Buch mit der Schrift nach unten neben Garys Sofa liegen. Die in Gold geprägten Buchstaben auf dem Rücken sagten ihm, dass es sich um Vanity Fair handelte, ein Buch, das er schon immer einmal lesen wollte. Ein Weinfleck in der vagen Form von Südamerika hatte den Einband verschandelt. Gary Hartley trank also, rauchte, sah fern und las die Klassiker. Aber sonst gab es für ihn auch nicht viel zu tun, oder? Ob er sich auch mit Musik auskannte? Eine Stereoanlage konnte Banks nicht sehen. Mit diesem Teenager zu sprechen war unheimlich. Er konnte höchstens ein Jahr älter als Brian sein, jede weitere Ähnlichkeit zwischen den beiden endete jedoch schon bei dem struppigen Haarschnitt.
»Etwas Geld wird doch bestimmt übrig sein, oder?«, meinte Banks.
»O ja. Das wird er mit ins Grab nehmen.«
»Und Sie?«
Er schaute überrascht. »Ich?«
»Ja. Was ist, wenn er tot ist? Bleibt dann etwas Geld für Sie, damit Sie hier ausziehen und sich eine eigene Wohnung nehmen können?«
Gary ließ seine Zigarette in eine Bierdose fallen. Es zischte. »Hab ich noch nie drüber nachgedacht«, antwortete er.
»Gibt es ein Testament?«
»Er hat mir nie eins gezeigt.«
»Was wird aus dem Haus?«
»Das war für Caroline.«
»Was meinen Sie damit?«
»Dad wollte es Caroline hinterlassen.«
Banks beugte sich vor. »Aber sie hat ihn im Stich gelassen, sie hat Sie alle verlassen. Sie mussten sich die ganzen Jahre über allein um ihn kümmern.« Auf jeden Fall hatte ihm Susan Gay das so berichtet.
»Und?« Gary stand mit sonderbar ruckartigen Bewegungen auf und nahm eine neue Schachtel Zigaretten vom Kaminsims. »Sie war immer sein Liebling, egal was sie gemacht hat.«
»Und jetzt?«
»Jetzt, wo sie tot ist, werde ich es wohl kriegen.« Er schaute durch das verwahrloste Zimmer, als würde ihn der Gedanke daran entsetzen, und ließ sich wieder auf das Sofa fallen.
»Wo waren Sie am Abend des zweiundzwanzigsten Dezember?«, fragte Richmond. Er hatte sich wieder hinreichend gesammelt, um einen Stuhl zu finden und sein Notizbuch hervorzuholen.
Mit einem Ausdruck von Verachtung im Gesicht warf Gary einen kurzen Blick auf ihn. »Die gute alte Glotze. Das übliche
Weitere Kostenlose Bücher