Inspector Alan Banks 05 In blindem Zorn
London. Aber wo sollte man anfangen?
Banks hob einen flachen Stein auf und ließ ihn über das Wasser in Richtung The Green springen. Kurz dachte er an Jenny Füller; die dort drüben in einem der georgianischen Doppelhaushälften wohnte. Sie war Dozentin für Psychologie in York und hatte Banks bei früheren Gelegenheiten schon geholfen. Auch bei diesem Fall könnte er ihre Hilfe gut gebrauchen, dachte Banks. Aber sie war über Weihnachten irgendwo ins Warme geflohen. Pech für ihn.
Vor ihm, nahe der Brücke, sah Banks einen Jungen, nicht älter als zwölf oder dreizehn. Er hatte eine Steinschleuder und zielte mit Kieselsteinen auf die Enten draußen auf dem Fluss. Banks ging zu ihm. Ohne ein Wort zu sagen, zog er seinen Dienstausweis hervor und hielt ihn dem Jungen zur gründlichen Betrachtung hin.
Der Junge starrte den Ausweis an, schaute dann hoch zu Banks und sagte: »Sind Sie wirklich ein Polizist oder nur einer von diesen Perversen? Mein Vater hat mich vor Typen wie Sie gewarnt.«
»Zu deinem Glück, Freundchen, bin ich wirklich ein Polizist«, antwortete Banks und schnappte sich die Schleuder aus der Hand des Jungen.
»Hey! Was soll das denn? Das ist meine.«
»Das Ding hier ist eine gefährliche Waffe«, erklärte Banks und steckte sie in seine Jackentasche. »Du kannst von Glück sagen, dass ich dich nicht einsperre. Warum willst du überhaupt auf diese Enten schießen? Was haben sie dir getan?«
»Keine Ahnung«, bekannte der Junge. »Ich wollte sie ja nicht töten oder so. Ich wollte nur mal sehen, ob ich eine treffen kann. Kann ich meine Schleuder zurückhaben, Mister?«
»Nein.«
»Ach, kommen Sie. Das Ding hat mich ein Pfund gekostet. Das habe ich mir von meinem Taschengeld zusammengespart.«
»Tja, dann mach dir lieber nicht die Mühe, für eine neue zu sparen«, riet ihm Banks und ging weg.
»Das ist Diebstahl am helllichten Tag, verdammt noch mal«, rief der Junge hinter ihm her. »Sie sind nicht besser als ein Dieb!«
Doch Banks ignorierte ihn und bald ebbte das Geschrei ab. Der Junge hatte etwas gesagt, das ihm interessant erschien: »Ich wollte sie ja nicht töten oder so. Ich wollte nur mal sehen, ob ich eine treffen kann.«
Konnte er wirklich die Handlung so eindeutig und unschuldig von ihrer Wirkung trennen? Und wenn er es konnte, konnte das auch ein Mörder? Es gab keinen Zweifel daran, dass, wer auch immer das Messer in Caroline Hartleys Körper gestoßen hatte, ihren Tod wollte - aber war das auch die ursprüngliche Absicht des Mörders oder der Mörderin gewesen? Die Schwellung auf ihrer Wange deutete darauf hin, dass sie zuerst geschlagen, vielleicht betäubt worden war. Wie war es dazu gekommen? Würde das eine Frau tun: eine andere Frau schlagen?
Könnte es sich um eine Art sexueller Begegnung gehandelt haben, die außer Kontrolle geraten war und bei der es ursprünglich nicht um Mord ging, sondern um das Verlangen, zu sehen, wie weit man gehen konnte? Vielleicht eine sado-masochistische Fantasie, die real geworden war? Denn schließlich war Caroline Hartley nackt gewesen. Aber das war absurd. Veronica und Caroline waren ein anständiges, konservatives, lesbisches Paar der Mittelklasse gewesen; sie hatten weder Streifzüge durch Lesbenbars unternommen noch versucht, unschuldige Schulmädchen für Orgien in ihr Haus zu locken, wie manche Lesben, über die man in reißerischen Boulevardzeitungen lesen konnte. Doch wenn Liebende miteinander kämpften, egal um welches Geschlecht es sich handelte, dann konnten sie leicht gewalttätig werden. Was war zwischen dem Schlag und dem Zustechen passiert? Durch welche wechselnden Gefühlszustände war die Mörderin gegangen? Caroline musste bewusstlos oder wenigstens zeitweilig betäubt gewesen sein, und da hatte die Mörderin wohl das Messer gepackt, das so praktisch auf dem Tisch neben dem Kuchen lag.
Was hatte sie dazu veranlasst? Hätte sie es auch dann getan, wenn das Messer nicht so griffbereit dagelegen hätte? Wäre sie in die Küche gegangen und hätte das Messer aus der Schublade genommen und auch noch entschlossen gewesen, nachdem sie zurück ins Wohnzimmer gekommen wäre? Unmöglich, diese Fragen zu beantworten - vielleicht hätte Jenny es vermocht -, aber sie mussten beantwortet werden, andernfalls würde er niemals den Schlüssel zu diesem Problem finden. Banks musste wissen, was in der Dunkelzone passiert war, was jemanden über alle Grenzen der Vernunft hinweg
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