Inspector Alan Banks 08 Der unschuldige Engel
wäre.«
Lawrence seufzte und machte eine leidgeprüfte Geste zu den Geschworenen. »Na gut, Mr Pierce. Sie haben der Polizei erzählt, dass das Mädchen Sie angerempelt hat. Ist das korrekt?«
»Ich habe der Polizei genau das erzählt, was passiert ist.«
»Warum haben Sie es nicht gleich erzählt?«
»Es schien mir nicht wichtig zu sein.«
»Ich bitte Sie, Mr Pierce, als die Polizei Sie das zweite Mal verhörte, wurde Ihnen bereits gesagt, wie wichtig alles ist, was an diesem Tag passiert war. Sie wussten, dass Ihre Lage ernst war. Warum haben Sie es der Polizei nicht gleich erzählt?«
»Das habe ich Ihnen bereits gesagt. Ich habe der Polizei auch nicht erzählt, wann ich mich bücken musste, um meinen Schnürsenkel zuzubinden, oder dass ich beim Zeitungshändler vorbeigegangen bin, um mir eine Abendzeitung zu kaufen, die es übrigens nicht gegeben hatte. Es erschien mir einfach nicht wichtig.«
»Dennoch haben Sie sich später sehr gut daran erinnert. Sobald Sie mit Beweisen konfrontiert worden waren, einen körperlichen Kontakt mit dem Opfer gehabt zu haben, hatten Sie plötzlich eine Erklärung parat.« Lawrence lachte und schlug mit seinen Armen wie eine Fledermaus. »Wie durch ein Wunder. Wirklich, Mr Pierce, erwarten Sie vom Gericht, Ihnen das zu glauben?«
»Einspruch.«
»Stattgegeben. Die Meinung des Zeugen zu solchen Fragen, was das Gericht glauben soll oder nicht glauben soll, ist, wie Sie genau wissen, nicht erforderlich.«
»Entschuldigen Sie, Euer Ehren. - Mr Pierce, ich behaupte, dass Sie gesehen haben, wie sich Deborah Harrison von ihrer Begleitung getrennt hat, dass Sie ihr auf den Friedhof gefolgt sind und dass Sie ...«
»Nein! Ich habe nichts dergleichen getan«, unterbrach Owen ihn.
»Und dass Sie Deborah Harrison mit dem Riemen ihres Ranzens erwürgt haben!«
Owen ballte seine Fäuste und verbarg sie vor den Blicken der anderen. »Das habe ich nicht«, sagte er ruhig und mit so viel Würde, wie er aufbringen konnte.
Lawrence musterte ihn mit seinen schwarzen Knopfaugen. »Keine weiteren Fragen«, verkündete er dann und nahm anscheinend mit sich zufrieden wieder Platz.
Es war Freitagnachmittag, deshalb vertagte Richter Simmonds die Verhandlung über das Wochenende und Owen wurde zurück in seine Zelle eskortiert.
* II
Am Montag, wieder auf der Anklagebank, versuchte Owen, seine Blicke von Michelle zu lösen und sich auf Jerome Lawrence' an die Geschworenen gerichtetes Schlussplädoyer zu konzentrieren. Was er hörte, unterschied sich wenig von der Eingangsrede: Owen war ein kaum noch menschlich zu nennendes Ungeheuer, das brutal ein reines und unschuldiges junges Mädchen ermordet hatte. Die meiste Zeit musste er immer wieder zu Michelle schauen. Er spürte, dass sie wusste, dass er sie anstarrte, aber sie erwiderte seinen Blick nicht.
Lawrence brauchte den ganzen Tag, um Grausamkeit an Grausamkeit zu reihen, Gräueltat an Gräueltat, und erst am Dienstagmorgen kam Shirley Castle dazu, ihre Schlussrede zu halten. Wieder konnte Owen nicht anders, als die meiste Zeit Michelle zu beobachten, und ehe er sich 's versah, kam Shirley Castle zum Ende.
»Und denken Sie vor allem an den Grundsatz ohne jeden Zweifel«, sagte sie. »Er ist das Fundament, auf dem unser Rechtssystem aufgebaut ist. Die Beweislast liegt bei der Staatsanwaltschaft. Fragen Sie sich selbst: Hat die Staatsanwaltschaft ihre Anklage ohne jeden Zweifel bewiesen? Sind Sie sich sicher, ohne jeden Zweifel, dass dieser Mann vor Ihnen etwas anderes ist als ein unschuldiges Opfer? Hegen Sie nicht selbst Zweifel? Ich glaube, dass Sie sehr wohl Zweifel hegen und dass Sie, wenn Sie ehrlich mit sich sind, nicht anders können, als mir zuzustimmen und nein zu sagen, nein, die Staatsanwaltschaft hat ihre Anklage nicht bewiesen. Denn vor Ihnen steht ein Mann, der zur falschen Zeit am falschen Ort war, ein Mann, der durch die polizeiliche Ermittlung, deren Sinn man ihm nicht erklärt hatte, verwirrt, beunruhigt und verängstigt war. Aber vor allem sehen Sie einen unschuldigen Mann vor sich, der bereits mehr als genug für ein Verbrechen bestraft worden ist, das er nicht begangen hat. Schauen Sie in Ihre Herzen, meine Damen und Herren, und ich bin mir sicher, Sie werden die Gewissheit finden, dass mein Mandant aller gegen ihn erhobener Anklagen unschuldig ist. Ich danke Ihnen.«
Nach diesem gezielt leidenschaftlichen Finale erschien Owen Richter
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