Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
ja.«
»Und wie geht es aus?«
Banks grinste und legte den Finger auf die Lippen. »Dann würde ich alles verraten. Ich möchte dir nicht das Ende verderben.«
Annie boxte ihn gegen den Arm. »Eine Gemeinheit! Und bis dahin?«
»Vivian Elmsley wird sich nicht verdrücken. Dazu ist sie zu alt und zu müde. Außerdem hat sie nichts, wo sie hingehen könnte. Zuerst sehen wir mal, ob wir Francis Henderson finden.«
»Und dann?«
»Wenn es dir recht ist, würde ich gerne nach Bethnal Green fahren und mich mit meinem Sohn treffen. Seine Band spielt da. Wir müssen ein paar Sachen besprechen.«
»Kein Problem. Verstehe schon. Vielleicht geh ich ins Kino. Was machst du danach?«
»Weißt du noch, dass du von einem verbotenen Wochenende gesprochen hast?«
Annie nickte.
»Ich weiß nicht, ob du noch daran interessiert bist, aber Richtung Bloomsbury gibt es ein verschwiegenes kleines Hotel. Und schließlich haben wir Freitag. Manchmal darf auch die Kripo pünktlich Feierabend machen. Wir lassen Vivian Elmsley drüber schlafen. Wenn sie kann.«
Annie errötete. »Aber ich hab keine Zahnbürste dabei.«
Banks lachte. »Ich kauf dir eine.«
»Hey, Big Spender ...« Sie sah ihn an, im Mundwinkel zuckte ein Lächeln. »Ich hab auch kein Nachthemd dabei.«
»Keine Sorge«, entgegnete Banks. »Du wirst keins brauchen.«
* 15
***
In den nächsten Wochen trauerte ich um Charlie; an Matthews Zustand bemerkte ich keinerlei Veränderung. Er blieb mit Gloria im Bridge Cottage. Ich glaube eigentlich nicht, dass es ihm zu dem Zeitpunkt etwas ausmachte, wo er sich befand, wenn er es denn überhaupt wusste, solange seine grundlegenden Bedürfnisse befriedigt wurden. Es verging kein Tag, an dem ich nicht eine Zeit lang bei ihm saß und mit ihm sprach, obwohl er nie antwortete und kaum erkennen ließ, dass er zuhörte; er starrte einfach nur mit seinem durchdringenden, nach innen gerichteten Blick ins Leere, als betrachte er die Schrecken und Qualen, die wir uns nicht einmal in unseren schlimmsten Albträumen vorstellen konnten.
Der Arzt aus London hielt Wort, so dass wir mit Matthew bald einen Termin bei Dr. lennings vereinbaren konnten, einem Psychiater, der an der Universität Leeds arbeitete. Seine Praxis befand sich in einem der großen alten Häuser in den Straßen hinter dem Campus, wo vor dem Ersten Weltkrieg große Familien mit ihrem Personal gewohnt hatten. Einmal pro Woche brachten Gloria oder ich Matthew zu seinem Termin, sahen uns eine gute Stunde lang in den Geschäften um, holten ihn wieder ab und brachten ihn zurück nach Hause. Beim dritten Besuch gab Dr. Jennings mir gegenüber zu, dass er wenig Erfolg mit den gängigen Methoden habe und nun Narkosynthese trotz aller Einwände in Erwägung ziehe.
Matthew machte keinen Ärger; er war geistig einfach nicht anwesend. Allerdings gewöhnte er sich an, jeden Abend ins Shoulder of Mutton zu gehen und dort allein in einer Ecke vor sich hin zu trinken, bis geschlossen wurde. Freunde und Nachbarn, die ihn kannten, kamen anfangs auf ihn zu und fragten ihn, wie es ihm ginge, aber bald mieden ihn selbst die, die sich seiner besonders warmherzig erinnerten. Von Zeit zu Zeit hatte er einen Wutanfall und zerschlug ein Glas oder trat gegen einen Stuhl. Aber das kam selten vor und war schnell vorbei.
Gloria gab mir einen Schlüssel, damit ich ins Bridge Cottage schlüpfen konnte, wann immer ich Zeit hatte. Sie nahm sich natürlich so oft wie möglich auf dem Hof frei, aber sie brauchte das Geld, und ich glaube, sie hätte den Schmerz und den Gram nicht ertragen, vierundzwanzig Stunden am Tag bei Matthew zu sein.
Es war schwer zu glauben, dass der Krieg nach so langer Zeit in Kürze vorbei sein sollte, auch wenn der Sieg schon in der Luft lag. Die Amerikaner hatten den Rhein überquert, Montys Leute ebenfalls. Die Russen hatten Berlin umzingelt. Im April und Mai hörten wir zum ersten Mal Gerüchte über Konzentrationslager und menschliche Gräueltaten in einem Ausmaß, wie sie in den Berichten über Lublin im vergangenen Jahr nur angedeutet worden waren. Die Zeitungen schienen kaum Worte zu finden, um zu beschreiben, was die Befreiungsarmeen in Orten wie Belsen und Buchenwald vorgefunden hatten. Ich las nicht nur von japanischem Kannibalismus und den entsetzlichen Folterungen, die Gefangene wie Matthew hatten erleiden müssen, sondern auch von den deutschen Lagern, wo Hunderttausende -
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