Inspector Alan Banks 10 In einem heißen Sommer
einen alten Kauz, der uns heute Abend zuhört«, sagte er und sah Banks an. Das Mädchen mit dem Stecker in der Lippe runzelte die Stirn, und er merkte, dass er rot wurde. Er war ja wohl der einzige alte Kauz hier.
Banks brauchte einige Augenblicke, bis er das Lied erkannte, so drastisch hatten sie Rhythmus und Tempo verändert und so stark unterschied sich Brians klagende, quäkende Stimme vom Original - doch nach anfänglicher Verwirrung genoss er die Cover-Version von einem seiner liebsten Dylan-Stücke: »Love Minus Zero/No Limit«. Die eingeflochtenen Afrorhythmen und die Prise Reggae machten die neue Version geschmeidiger. Andy an der Orgel durchdrang das Ganze, und Brians Gitarrensolo war gedämpft und lyrisch, spann kleine Riffs und Schnörkel um die Melodie herum.
Dylans kryptischer Text bildete einen Kontrast zu Brians eigenen Liedern, größtenteils leicht zugängliche Stücke über Angst, Gelüste und Entfremdung Heranwachsender und die Übel der Gesellschaft, doch erzeugte der Text in Banks dieselbe Resonanz wie vor vielen Jahren, als er ihn zum ersten Mal zu Hause im Radio gehört hatte.
Bevor das Lied verklungen war, hatte Banks einen Kloß im Hals und Tränen in den Augen. Er zündete sich noch eine Zigarette an, die vierte des Tages. Er wurde nicht nur sentimental, weil sein Sohn dort auf der Bühne stand und ihm etwas schenkte, sondern auch weil das Stück Erinnerungen an Jem heraufbeschwor.
Nach Jems Tod kam niemand in das möblierte Zimmer, um seine Hinterlassenschaft abzuholen. Der Vermieter, dessen Musikgeschmack wohl eher bei Skiffle als bei Rockmusik angesiedelt war, überließ Banks die kleine Schallplatten-Sammlung. Da er eher Harold Robbins las als Baba Ram Dass, durfte Banks auch die Bücher nehmen.
Oft hatten sich Banks und Jem Bringing lt All Back Home abgehört, und als er die Platte zu Hause wieder herausholte, um sie zu Jems Erinnerung zu spielen, fand er einen in die Hülle geschobenen Brief. Er war an Jeremy Hylton in einem Ort in Cambridgeshire adressiert. Zuerst wollte er ihn mit Rücksicht auf Jems Privatsphäre nicht lesen, aber dann siegte, wie üblich, die Neugierde. Dem Stempel zufolge war der Brief vor fünf Jahren abgeschickt worden. Er hatte gewusst, dass Jem älter war als er, aber nicht wie viel. Der Brief war sehr kurz.
Lieber Jeremy,
ich schreibe an die Adresse deiner Eltern, weil ich weiß, dass du Pfingsten nach Hause fährst, und wenn du zurückkommst, werde ich nicht mehr da sein. Es tut mir Leid, ich habe dir versucht zu sagen, dass es einfach nicht klappt mit uns, aber du hörst mir nicht zu. Ich weiß, dass so ein Brief eine feige Lösung ist, und ich weiß, dass ich dir wehtue, aber ich will das Kind nicht, und es ist mein Körper, meine lebenslange Last. Ich habe einen Termin bei einem guten Arzt, du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. Das Geld habe ich auch, ich brauche also nichts von dir. Danach werde ich lange weit fort sein, such mich bitte nicht. Es tut mir Leid, Jeremy, wirklich, aber es lief schon vor der Schwangerschaft nicht gut mit uns, das hast du doch gemerkt. Ich verstehe nicht, wie du glauben konntest, dass uns ein Kind enger zusammenbringt. Tut mir Leid.
Clara
Banks wusste noch, dass ihn der Brief verwirrt und bestürzt hatte. Jem hatte nie von einer Clara gesprochen, auch hatte er nie erwähnt, wo seine Eltern wohnten oder wer sie waren. Er sah wieder auf die Anschrift: Croft Wynde. Klang piekfein. Er hatte nicht die geringste Ahnung, aus welchem Umfeld Jem stammte; er hatte keinen erkennbaren Akzent gehabt und nie von der Welt erzählt, in der er aufgewachsen war. Sicherlich hatte er eine gute Erziehung genossen, er war belesen und führte Banks in die Welt der Literatur ein: von Kerouac und Ginsberg zu Hesse und Sartre, aber er sprach nie darüber, die Universität besucht zu haben. Damals verschlang jeder diesen Kram; man brauchte kein Seminar, um Unterwegs oder Das Geheul zu lesen.
Banks dachte über das nach, was er in dem Brief erfahren hatte, und notierte sich die Adresse. Das Mindeste, was er tun konnte, war, sein Beileid auszusprechen. Er hatte sich einsam gefühlt in London, und es wäre noch schlimmer gewesen, wenn es nicht die Gespräche, die Musik und die Wärme von Jems kleinem Zimmer gegeben hätte.
Das Lied war zu Ende und das Klatschen des Publikums riss Banks aus seinen Träumen.
»Das war seltsam«, meinte der junge Mann neben ihm.
Die Schwarzhaarige
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