Inspector Alan Banks 11 Kalt wie das Grab
es ein bisschen spät, oder? Schließlich ist sie schon seit fast sechs Monaten hier. Er hätte sich damals etwas mehr anstrengen sollen, sie zu finden, wenn Sie mich fragen.« Sie hielt inne, kniff wieder die Augen zusammen, sagte dann: »Bei Ihnen bin ich mir nicht so sicher. Sie verschweigen mir etwas. Sie haben sie doch nicht etwa gebumst? Ihr würde ich das glatt zutrauen. Sie war keine Unschuld vom Lande, als sie nach London kam. Sie kannte sich aus.«
»Für mich ist sie ein bisschen zu jung«, sagte Banks.
Ruth lachte krächzend. »In Ihrem Alter, würde ich meinen, geht es doch meist darum, je jünger, desto besser. Warum gibt es wohl all die dreizehn-, vierzehnjährigen Prostituierten? Weil den Mädchen das gefällt?«
Banks spürte die Schärfe ihrer Bemerkung, aber ihm fiel keine passende Antwort ein. »Wir schweifen ab.«
»Nicht, wenn Sie wollen, dass ich Ihnen Louisas Adresse gebe. Ich muss mich doch erst vergewissern, dass Sie kein Perverser sind, kein Fiesling, nicht wahr? Und kommen Sie mir nicht mit dieser Altersklamotte. Louisa könnte einen neunzigjährigen Bischof aus seiner Soutane rauslocken, wenn sie wollte.«
»Ich kann nur wiederholen, was ich Ihnen bereits gesagt habe. So was ist nicht vorgefallen. Ich habe selbst eine Tochter in Louisas Alter.«
»Ach ja?«
»Ja.«
»Wie heißt sie?«
Überrascht erwiderte Banks: »Tracy.«
Ruth schätzte ihn erneut ein. »Sie sehen nicht alt genug aus.«
»Wollen Sie meine Geburtsurkunde sehen?«
»Nein, das ist nicht nötig. Außerdem tragen Sie die ja wohl nicht mit sich herum, oder?«
»Das war ein ... ach, vergessen Sie's.« Banks fand, er hatte eigentlich genug von Ruth Walker und ihrer Scharfzüngigkeit. Kein Wunder, dass Emily bei der ersten Gelegenheit mit Craig Newton abgehauen war.
Ruth stand auf und trat ans Fenster. »Ist das zu fassen? Dieser alte Schwachkopf«, sagte sie gleich darauf, als spräche sie mit sich selbst. »Der macht Nachtwachen, als Sicherheitsbeamter. Hat keine Ahnung, dass seine Frau jede Nacht mit dem Typ aus Nummer dreiundfünfzig vögelt. Widerlicher Kerl. Vielleicht sollte ich es ihm sagen?«
Bevor Banks eine Bemerkung machen konnte, wirbelte Ruth herum, verschränkte die Arme und bedachte ihn mit einem selbstgefälligen Lächeln. »In Ordnung«, verkündete sie. »Ich sage Ihnen, wo sie wohnen. Aber Sie verschwenden Ihre Zeit. Sie hat die Schnauze voll von Leuten wie Ihnen. Sie wird Ihnen gar nicht erst zuhören.«
»Einen Versuch ist es trotzdem wert. Zumindest kann ich rausfinden, ob es ihr gut geht und was sie vorhat.«
Ruth warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Vielleicht«, sagte sie. »Und vielleicht auch nicht.«
Kurz nach sechs stieg Banks aus der U-Bahn an der Warwick Avenue und ging zu der Adresse, die Ruth ihm gegeben hatte. An einem schönen Sommerabend wäre Banks vielleicht die Stufen zum Kanal hinuntergegangen und hätte die bunt bemalten Hausboote bewundert, aber es war schon am späten Nachmittag dunkel geworden, es hatte sich noch mehr abgekühlt, und der Wind roch nach Regen. , Die Adresse stellte sich als ein villenähnliches Gebäude heraus, kantig und zurückgesetzt, umgeben von einer hohen Mauer. In der Mauer befand sich ein Eisentor. Ein verschlossenes Eisentor.
Banks hätte sich treten können, dass er nicht auf so was vorbereitet gewesen war. Wenn Louisas Freund sich mit Gorillas umgab, war er auch jemand, der in einer verdammten Festung lebte. An Emily Riddle heranzukommen, würde nicht so einfach sein wie an eine Tür zu klopfen oder auf eine Klingel zu drücken.
An der Vorderseite des Hauses schien Licht durch die dunklen Vorhänge an zwei Fenstern im Erdgeschoss und einem im ersten Stock, und über der Haustür brannte eine Laterne. Banks überlegte, wie er am besten vorgehen sollte. Er konnte einfach klingeln und über die Sprechanlage probieren, ob sie ihn reinließen. Er konnte aber auch über das Tor klettern und an die Haustür klopfen. Und dann? Die junge Maid in Nöten retten? An ihrem Haar zum Fenster hinaufklettern? Sie sich über die Schulter werfen und fliehen? Soviel er wusste, war Emily Riddle nicht in Nöten und wurde auch nicht in einem Turm gefangen gehalten. Ja, es mochte sogar sein, dass sie sich bestens amüsierte.
Banks stand vor dem Tor und starrte durch die Gitterstäbe, das Gesicht so nahe an den Stäben, dass er die vom Eisen ausströmende Kälte spürte.
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