Inspector Alan Banks 11 Kalt wie das Grab
machen. Wenn er jetzt losging, würde er gegen Mittag dort ankommen. Falls Ruth ihm Louisas Adresse gab, würde er Louisa am frühen Abend zwischen sechs und sieben aufsuchen, zu einer Zeit, zu der üblicherweise die meisten Leute zu Hause waren. Das sollte ihm genügend Zeit lassen, um sich um acht mit Sandra in Camden Town zu treffen.
Ein kühler Wind wehte vom schlammigen Fluss herauf und pfiff Banks um die Ohren, als er die Lambeth Bridge überquerte. Er schaute zurück. Lichtstrahlen fielen durch die Wolken auf das Parlamentsgebäude. Schon seltsam, dachte Banks, aber wenn man zu Besuch in eine Stadt kommt, in der man lange gelebt hat, sieht man sie anders, wird mehr zum Touristen im eigenen Land. Als er noch hier lebte, hatte er vermutlich kaum auf Big Ben und das Parlamentsgebäude geachtet. Selbst jetzt galt sein Polizistenblick mehr den beiden verschlagen aussehenden Skinheads auf der anderen Straßenseite, die zwei japanischen Touristen zu folgen schienen, als der Schönheit der Londoner Architektur.
Gegen halb eins erreichte Banks die Straße, in der Ruth wohnte, nicht weit von der Kennington Road. Die Reihenhäuser aus Ziegelstein waren drei Stockwerke hoch und so schmal, dass sie wie ein Mund voll schlechter, eng stehender Zähne wirkten. Hier und da hatte jemand die Fensterrahmen bunt gestrichen oder ein paar Topfpflanzen in das Erkerfenster gestellt.
An der Klingel vom dritten Stock stand »R. A. Walker«, was sofort verriet, dass hier eine Frau wohnte. Banks klingelte und hörte das entfernte Läuten. Er wartete, aber niemand machte auf. Dann klingelte er noch mal. Wieder nichts. Nachdem er noch ein paar Minuten auf der Schwelle gestanden hatte, gab er auf. Er hatte nicht vorher anrufen wollen - Überraschung funktionierte in Situationen wie dieser oft am besten, fand er -, also war er auf Warten eingerichtet.
Banks beschloss, zum Lunch zu gehen und in einer Stunde oder so wiederzukommen. Wenn sie dann nicht da war, musste er sich etwas anderes überlegen. Er fand einen annehmbaren Pub auf der Main Street und genehmigte sich ein Pint, während er seine Zeitung zu Ende las. Ein paar Stammgäste standen an der Bar, und eine Gruppe Jugendlicher hatte sich um die Videospiele versammelt. Ein Mann mit einer karierten Mütze schlüpfte immer wieder um die Ecke zum Wettbüro und erzählte beim Zurückkommen allen mit lauter Stimme, wie viel er verloren hatte und dass das Pferd, auf das er gesetzt hatte, in die Leimfabrik gehörte. Alle lachten nachsichtig. Niemand kümmerte sich um Banks, was ihm gerade recht war. Nach einem Blick auf die Speisekarte bestellte er Hühnerpastete. Das wäre was für Annie Cabbot gewesen, dachte Banks, als er zwischen den Erbsen und Karotten vergeblich nach Fleisch suchte. Annie war Vegetarierin.
Kurze Zeit später stand er wieder auf Ruth Walkers Türschwelle und drückte lange auf die Klingel. Diesmal wurde er mit einer misstrauischen Stimme aus der Sprechanlage belohnt.
»Wer ist da?«
»Ich komme wegen Louisa«, sagte Banks. »Louisa Gamine.«
»Louisa? Was ist mit ihr? Sie ist nicht hier.«
»Ich muss mit Ihnen reden.«
Eine lange Pause entstand, so lang, dass Banks schon meinte, Ruth hätte eingehängt, dann sagte die Stimme: »Kommen Sie rauf. Oberste Etage.« Der Summer ertönte, und Banks drückte die Haustür auf.
Auf der Treppe lag ein Läufer, allerdings so abgetreten, dass das Muster an manchen Stellen kaum noch zu erkennen war. Essensgerüche drangen auf Banks ein, während er die schmale Treppe hinaufstieg: ein Hauch von Curry, Knoblauch und Tomatensoße. Oben gab es nur eine Tür. Sie öffnete sich nach seinem Klopfen fast sofort, und eine junge Frau betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen. Nachdem sie ihn eine Weile gemustert hatte, öffnete sie die Tür weiter und ließ Banks herein.
Das Beste, was Banks zu Ruth Walker einfiel, war »unscheinbar«. Eine gemeine und unfaire Beschreibung, wie er wusste, aber es stimmte. Ruth war die Art Mädchen, die, in Banks' Jugend, immer mit einer attraktiven Freundin herumlief, derjenigen, die man wirklich haben wollte. Die Ruths dieser Welt versuchte man für gewöhnlich an seine Freunde loszuwerden. Es gab nichts Hervorstechendes an ihr, bis vielleicht auf die offensichtliche Intelligenz in ihren beunruhigenden und ruhelosen grauen Augen. In ihre Stirn schien sich_bereits ein permanentes Stirnrunzeln eingegraben zu haben.
Sie trug einfache, ausgebeulte
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