Inspector Alan Banks 12 Wenn die Dunkelheit fällt
studierte die Karte. Die Wolken lösten sich langsam auf, ließen mehr Sonnenlicht durch, aber die Straßen waren noch voller Pfützen, und die an ihr vorbeirasenden Autos und Lastwagen wirbelten Wasserfontänen auf.
Lucys Eltern wohnten an der A164 Richtung Beverly. Jenny musste also nicht durchs Zentrum von Hull fahren. Sie schlängelte sich durch die endlosen westlichen Vororte und fand schnell das gesuchte Wohngebiet. Das Heim von Clive und Hilary Liversedge war eine gut erhaltene Doppelhaushälfte mit Erkerfenster, die sich in einen gediegenen Halbkreis ähnlicher Häuser duckte. Nicht gerade toll für ein heranwachsendes junges Mädchen, dachte Jenny. Ihre Eltern waren oft umgezogen, als sie klein war, so dass Jenny, obwohl in Durham geboren, nacheinander in Bath, Bristol, Exeter und Norwich gewohnt hatte, Universitätsstädte, in denen es vor paarungswilligen jungen Männern nur so wimmelte. Sie hatte nie in einem trüben Provinznest wie dem hier gehockt.
Ein kleiner, untersetzter Mann mit einem grauen Schnauzer öffnete die Tür. Er trug eine grüne, offene Strickjacke und eine dunkelgrüne Hose, die sich an seinen rundlichen Bauch schmiegte. Bei so einer Figur half ein Gürtel nicht viel, dachte Jenny, als sie die Hosenträger entdeckte.
»Clive Liversedge?«
»Kommen Sie rein, junge Frau«, sagte er. »Sie sind bestimmt Dr. Füller.«
»Richtig.« Jenny folgte ihm in den voll gestellten Flur, von dem eine Tür mit Glasscheiben in ein adrettes Wohnzimmer führte. Es war mit einer dreiteiligen Garnitur aus rotem Velours eingerichtet, dazu ein elektrischer Kamin mit künstlichen Kohlen und eine gestreifte Tapete. Irgendwie hatte sich Jenny den Ort, an dem Lucy Payne aufgewachsen war, anders vorgestellt; sie bekam überhaupt kein Gefühl für Lucy in dieser Umgebung.
Jetzt sah Jenny, was Banks gemeint hatte, als er von der kranken Mutter sprach. Hilary Liversedge lag auf dem Sofa, eine Wolldecke über die untere Körperhälfte gebreitet. Sie hatte dünne Arme, und ihre blasse Haut war faltig und locker. Die Frau rührte sich nicht, als Jenny eintrat. Einzig ihre flinken Augen schauten lebendig und aufmerksam, auch wenn die Sklera gelblich getönt war. Jenny wusste nicht, woran Mrs. Liversedge litt, tippte aber auf eines der unspezifischen chronischen Gebrechen, in denen gewisse Menschen gegen Ende ihres Lebens Zuflucht suchen.
»Wie geht es ihr?«, fragte Clive Liversedge, als sei Lucy leicht gestürzt oder habe einen Autounfall gehabt. »Man hat uns gesagt, es ist nicht so schlimm. Kommt sie zurecht?«
»Ich hab sie heute Morgen besucht«, erwiderte Jenny. »Sie hält sich gut.«
»Armes Mädchen!«, sagte Hilary. »Wenn man bedenkt, was sie durchgemacht hat. Richten Sie ihr aus, dass sie gerne zu uns kommen und hier wohnen kann, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen wird.«
»Ich wollte mir einen Eindruck verschaffen, wie Lucy so ist«, setzte Jenny an. »Was für ein Mädchen sie war.«
Die Liversedges sahen sich an. »Normal«, antwortete Clive.
»Wie alle Mädchen«, bestätigte Hilary.
Na klar, dachte Jenny Normale Mädchen heiraten ja auch jeden Tag Serienmörder. Selbst wenn Lucy nicht das Geringste mit den Morden zu tun hatte, konnte etwas mit ihr nicht stimmen, war sie irgendwie sonderbar. Das hatte Jenny schon bei der kurzen Plauderei am Morgen im Krankenhaus festgestellt. Sie hätte sich lang und breit in Fachchinesisch darüber auslassen können - und Jenny war in ihrem Berufsleben schon so einiges über den Weg gelaufen aber am Ende blieb das bestimmte Gefühl, dass Lucy Payne einen oder auch zwei Risse in der Schüssel hatte.
»Wie war sie in der Schule?«, fragte Jenny.
»Sehr gut«, erwiderte Clive.
»Sie hat drei A-Level gemacht. Mit guten Noten. Nur Einsen und Zweien«, fügte Hilary hinzu.
»Sie hätte zur Universität gehen können«, warf Clive ein.
»Warum ist sie nicht hingegangen?«
»Sie wollte nicht«, sagte Clive. »Sie wollte hinaus in die Welt und sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen.«
»Ist sie ehrgeizig?«
»Sie ist nicht gierig, wenn Sie das meinen«, entgegnete Hilary, »Natürlich will sie vorankommen, so wie alle anderen auch, aber sie meint, dass man dazu keinen Universitätsabschluss braucht. Die werden eh zu wichtig genommen, finden Sie nicht?«
»Wahrscheinlich«, stimmte Jenny zu, die einen Bachelor und einen Doktortitel hatte. »War sie fleißig in der
Weitere Kostenlose Bücher